Im Reich der Löwin
Anstieges lichtete sich schließlich das Dickicht aus kahlen Haselsträuchern, niedrigen Fichten und Schlehenbüschen, und vor den Augen der Männer öffnete sich eine Hochebene von solch gewaltigen Ausmaßen, dass Roland vor Erstaunen der Atem stockte. Während er schwer atmend an Henrys Seite den Blick über die ehrfurchterregende Weite des Plateaus schweifen ließ, stürmte der unermüdliche Löwenherz bereits auf den im Zentrum des Areals gelegenen Kreidefelsen zu. Diesen erklomm er mit wenigen ausgreifenden Schritten, um mit hoch erhobenem Haupt die Augen auf die Wolkentürme im Norden zu richten. Als wöge die volle Rüstung, mit der er den steilen Abhang bezwungen hatte, weniger als ein leichtes Nachtgewand, sprang er nach einigen Augenblicken des Schweigens zurück auf das gefrorene Gras hinab und grinste breit. » Château Gaillard. Das kecke Kastell!«, verkündete er mit einer ausgreifenden Geste. Während seine Begleiter noch damit beschäftigt waren, die wie ein Trebuchetgeschoss eingeschlagene Neuigkeit zu verarbeiten, eilte Richard – begleitet von Mercadier, dem Earl of Leicester, Robin of Loxley, Otto und William Marshal – bereits auf den östlich gelegenen Steilhang zu, der beinahe senkrecht in die Tiefe abfiel und von Krüppelgehölz und totem Gras überwuchert war. Mit von der Anstrengung immer noch wild hämmerndem Herzen folgten Henry und Roland ihren Dienstherren und starrten mit offenem Mund in die Tiefe, wo sich die Seine träge und bleiern Richtung Norden schlängelte. »Es wird eine Festung, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat«, hörte Roland den englischen König prahlen. Doch bevor dieser sein Vorhaben weiter erläutern konnte, hielt Mercadier warnend die Hand in die Höhe und wies mit dem Kopf in Richtung einer kleinen Gruppe von Wacholderbüschen, die trunken im Wind hin und her schwankten.
Beunruhigt beobachtete Roland, wie der breitschultrige Normanne das Schwert zog, drei weiteren Männern ein Zeichen gab und lautlos die Stelle umschlich, um den von ihrem Standpunkt aus unsichtbaren Feind mit grimmiger Miene und vorgehaltener Klinge zur Kapitulation zu zwingen. Auch Richard Löwenherz und die anderen Krieger hatten inzwischen die Waffen gezogen. Aber als sich die von Mercadier Ergriffenen mit gesenkten Häuptern und bebenden Gliedern aus der flachen Senke kämpften, brach nicht nur der englische König in dröhnendes Gelächter aus. Frierend und schmutzig ließen sich drei etwa achtjährige Bauernbengel vor den Männern auf die Knie fallen, um mit furchtgeweiteten Augen um ihr Leben zu flehen. Einer von ihnen hatte vor lauter Schreck die Kontrolle über seine Blase verloren. Während sich ein dunkler Fleck an der Vorderseite seiner groben blauen Cotte ausbreitete, ließ der größte des Kleeblatts einen toten Hasen fallen, als habe dieser seine Finger verbrannt. »Mein Gott, Mercadier«, prustete Richard. »Was für Furcht einflößende Gegner!« Mit einem erheiterten Kopfschütteln wollte er die Burschen davonjagen, doch der Normanne hielt ihn mit einem zwar respektvollen, aber ernsthaften Einwand zurück. »Sie haben Euch belauscht, Sire«, gab er zu bedenken. »Damit ist Euer Plan kein Geheimnis mehr.« Einen kaum wahrnehmbaren Augenblick wog Löwenherz die Konsequenzen dieser Tatsache ab, doch dann winkte er mit einer wegwerfenden Geste ab. »Walter wird es ohnehin früher oder später erfahren«, brummte er und ließ den Blick über die zitternden Knaben gleiten. Dem Kleinsten von ihnen lief die Nase, aber er wagte nicht, sie an seinem halb zerfetzten Ärmel abzuwischen. »Lasst sie laufen!« Als Mercadier die Stirn runzelte, setzte der König hinzu: »Verpasst ihnen meinetwegen eine Tracht Prügel.« Er wies auf den gewilderten Hasen. »Und dann jagt sie davon!« Mit diesen Worten wandte er sich ab und befahl an die übrigen Anwesenden gewandt: »Zurück nach Poitiers! Ein solches Unterfangen will sorgsam geplant sein.«
Die Normandie, Les Andelys, 13. Januar 1196
Mit zusammengekniffenen Augen verfolgte der Bischof Walter von Rouen, wie die stecknadelkopfgroßen Gestalten sich von dem leicht überhängenden Rand der Kreideklippe lösten und aus seinem Blickfeld verschwanden. Also waren seine Befürchtungen gerechtfertigt gewesen! Nachdem die beiden Könige sich aus Louviers verabschiedet hatten, war die Maske der Selbstsicherheit von dem Bischof abgefallen, und er hatte schleunigst satteln lassen, um wenigstens Richard Löwenherz – dem er weitaus weniger traute
Weitere Kostenlose Bücher