Im Reich der Löwin
deutlich die Helme und Panzer der ihnen in den Rücken fallenden Franzosen auf.
»Mylord, noch können wir uns zurückziehen«, riet der an seiner Seite zum Halten gekommene Earl of Leicester vorsichtig. Und auch William Marshal, der ebenfalls sein frisch in England erworbenes Schlachtross auf die Höhe des Königs gebracht hatte, stimmte zu. »Sie sind eindeutig in der Übermacht, Sire«, warnte der graubärtige Earl of Pembroke. »Wenn überhaupt, könnten wir einen Pyrrhussieg erringen, der uns so stark dezimieren würde, dass wir handlungsunfähig wären.« Sein faltiges Gesicht wirkte besorgt. »Sie haben die Festung bereits im Würgegriff, Mylord«, mischte sich nun auch der Earl of Lincoln ein, der auf einem feurigen Schimmelhengst thronte. »Seht Euch nur die Stärke der Verschanzungen an.« Auch wenn Roland den Einwänden der erfahrenen Kämpfer insgeheim zustimmte, hätte er ihnen die Antwort seines Halbbruders vorhersagen können. »Wir werden uns ganz sicher nicht von diesem Schlappschwanz ins Bockshorn jagen lassen«, schnaubte Richard Löwenherz ärgerlich. »Ihr werdet sehen, wie schnell diese Feiglinge das Weite suchen, wenn man ihnen nur richtig zusetzt!« Bevor einer seiner Berater weitere Argumente gegen einen Angriff anbringen konnte, hob Löwenherz den Schild und grub seinem Schlachtross die Fersen in die Flanken, um auf den äußersten Belagerungsring zuzupreschen. Dessen Mitglieder spritzten – wie um Richards Vorhersage zu bekräftigen – auseinander, als sei der Leibhaftige zwischen sie gefahren. Irgendwann wird ihn seine Hybris den Kopf kosten, dachte Roland grimmig, während er an Richards Flanke klebte, um seinem Bruder durch das blutige Durcheinander zu folgen. Wie ein Gottesgericht mähte der hünenhafte Löwenherz jeden nieder, der sich ihm in den Weg stellen wollte. Und während Roland alle Hände voll damit zu tun hatte, sich der auf ihn einhackenden Feinde zu erwehren, drosch sein Halbbruder blindlings auf die vor ihm zurückweichenden Franzosen ein. Links und rechts von ihm starben die von den tödlichen Langschwertern wie Grashalme gefällten Fußsoldaten, während um ihn herum Armbrustbolzen und Pfeile Reiter wie Rösser in den Tod rissen. Beinah den gesamten Tag dauerte das Gemetzel, das sowohl in die französischen als auch in die englischen Reihen solch beträchtliche Breschen schlug, dass der Kampf irgendwann zum Erliegen kam, da die Reiter Schwierigkeiten hatten, über die Toten hinwegzusetzen. Als endlich die Sonne am Horizont versank, befahl der englische König seinen Truppen, sich gegen einen Angriff von zwei Fronten zu verschanzen. Im Laufe des Tages hatte sich der Kreis der feindlichen Truppen um die Engländer immer enger gezogen, sodass sie sich nun in der Zange zwischen Franzosen und deren flandrischen Entsatz befanden.
»Morgen werden wir diesen Giftzwerg das Fürchten lehren!«, prahlte Richard, als er sich mit vollem Mund kauend auf den einfachen Feldhocker fallen ließ, den Roland für ihn aufgestellt hatte. »Das Lösegeld wird ihn ruinieren!«, frohlockte er. Und wenngleich Roland mehr als skeptisch war, ertappte er sich dabei, wie er den Prophezeiungen des begeisterungsfähigen Löwenherz Glauben schenken wollte. Das Verhältnis der beiden Brüder hatte sich in den letzten Wochen verbessert. Roland war fest entschlossen, die Hochachtung und das Vertrauen des Königs zu gewinnen, um ihn früher oder später davon zu überzeugen, dass er ein würdiger Vasall und Ritter sein würde, dem man die Wahl einer Gemahlin selbst überlassen konnte. Noch immer wollte er die Hoffnung nicht aufgeben, Jeanne irgendwann wieder in die Arme schließen zu dürfen. »Und wenn wir hier fertig sind, werde ich mir meinen ehrenwerten Bruder John vorknöpfen«, setzte Richard hinzu, nachdem Roland ihm ein weiteres Stück kalten Braten vorgelegt hatte. »Wenn meine Mutter wirklich glaubt, dass ich seinen Ränkespielen nachgebe und ihn als Thronfolger anerkenne, hat sie sich geirrt!« Kurz vor ihrem Aufbruch aus Rouen hatte den englischen König eine Nachricht von Aliénor von Aquitanien erreicht, in der sie ihn darum bat, seinen Bruder offiziell anzuerkennen. Damit – so meinte sie – würde er Philipp von Frankreich, der mit dem Prinzen Arthur ein Druckmittel gegen ihn in der Hand hatte, den Wind aus den Segeln nehmen, und für Frieden in den eigenen Reihen sorgen. »Ha!«, hatte Löwenherz getobt, und Roland – der erstaunt war über die ungewohnte Einbeziehung in
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