Im Reich der Löwin
mit einem Einmarsch in seine Grafschaft gedroht hätte, anstatt wie ein Bittsteller um seine Unterstützung gegen Richard Löwenherz zu buhlen. Da Balduin, der erst im vergangenen Jahr seinem Vater nachgefolgt war, jedoch schwer unter den eingeschränkten Wolllieferungen aus England zu leiden hatte, würde es dem französischen König ein Leichtes sein, ihn mit Versprechungen ebendiesen Rohstoff betreffend zu ködern. Sollte die Aussicht auf höheren Profit und somit höhere Abgaben der in Brügge und Gent ansässigen Tuchweber und -händler nicht genügen, konnte er dem ernsten jungen Mann immer noch die Rückgewinnung des Artois in Aussicht stellen, das die französische Krone ihm bei seinem Machtantritt kurzerhand abgenommen hatte. Dies war auch der Grund, warum der stark religiöse Balduin seinem Lehnsherrn immer noch grollte, wenngleich er sich inzwischen mit der Tatsache abgefunden zu haben schien.
»Kommen wir auf Euer Angebot zurück«, erwiderte der Graf mit einem belustigten Funkeln in den Augen. »5 000 Silbermark, um unsere Verluste aus dem englischen Embargo wettzumachen.« Er ließ den Betrag einen Augenblick in der Luft stehen, bevor er die Schultern zuckte und eine der hellen, für sein Alter bereits erstaunlich buschigen Brauen hob. Über den Köpfen der beiden Männer stritten sich zwei Krähen mit einem wütend protestierenden Falken, der nach einigem Hin und Her das Weite suchte. Die Sonne, die hinter einer der launenhaften Wolken verschwunden war, wählte diesen Moment, um die Kirsch- und Apfelbäume, die unter der weiß-rosafarbenen Blütenpracht zu ersticken schienen, in ein gleißendes Licht zu tauchen. »Und eine Liefergarantie für die nächsten zehn Jahre, sollten wir den Engländer besiegen.« Ein leicht ironischer Unterton hatte sich in die Stimme des Fünfundzwanzigjährigen geschlichen. Doch nach einem letzten kritischen Blick auf Philipp von Frankreich hob er die Rechte und schlug in die ihm dargebotene Hand ein. »Gebt mir einen Monat, um meine Männer zusammenzuziehen«, forderte er. »Dann werden wir in Paris zu Euch stoßen.« Zwar konnte der Franzose seine Ungeduld nur mühsam zügeln, doch blieb ihm nichts anderes übrig, wollte er seinem Angstgegner endlich eine vernichtende Niederlage beibringen. Und mit den zusätzlichen Truppen aus Flandern rückte dieser Wunsch auf einmal in greifbare Nähe. »Abgemacht.«
Poitiers, Abtei Sainte-Croix, Anfang Mai 1196
»Nein!« Die Stimme, die aus dem Hof der Abtei in Jeannes Kammer drang, war schrill vor Furcht. »Ich habe nicht gestohlen!« Stirnrunzelnd legte die junge Frau die langweilige Stickerei, mit der sie sich die letzten Stunden beschäftigt hatte, zur Seite, streckte die müden Schultern und trat an ein winziges Fenster. Wenn sie den Hals so weit wie möglich reckte, konnte sie das östliche Ende des Kreuzganges sehen, aus dem in diesem Moment eine magere Gestalt in Richtung des Prangers gezerrt wurde, der – so hatte Jeanne jedenfalls bis jetzt vermutet – lediglich zur Abschreckung dienen sollte. Mit harten Schlägen wurde ein Mädchen mit wirrem Haar von einem halben Dutzend älterer Nonnen auf den hölzernen Pfosten zugetrieben, wo es jammernd auf die Knie fiel. »Ich habe nicht gestohlen«, flehte es. »Wirklich.« Mit einem freudlosen Lachen schlug ihr eine der Frauen ins Gesicht, ehe sie einen Gegenstand in die Luft hob, der im Licht der prallen Sonne funkelte. »Hört, hört! Sie hat nicht gestohlen«, höhnte sie an ihre Begleiterinnen gewandt und lachte meckernd. Dann bückte sie sich zu dem im Schmutz kauernden Kind und riss es grob an den Haaren in die Höhe. »Dann hat dir vermutlich der Heilige Benedikt dieses Kruzifix in die Tasche gesteckt!« Ihr grobknochiges Gesicht verzog sich zu einer schadenfrohen Fratze, als sie den zwei neben ihr stehenden Frauen den Befehl gab, das Mädchen an den Pfahl zu binden und ihm die Haube vom Kopf zu reißen. »Du bist nicht nur eine Diebin, sondern auch eine Lügnerin!«, herrschte sie daraufhin die weinende Küchenmagd an, deren ausgemergelter Körper von Schluchzern geschüttelt wurde. »Dafür gibt es nur eine Strafe.«
Mit einer energischen Bewegung zog sie ein halbmondförmiges Messer unter ihrem Gewand hervor und trat auf die weinende Sünderin zu, um die freie Hand in ihr verfilztes Haar zu graben. Brutal fuhr sie – die entsetzten Schreie des Mädchens ignorierend – in die dunklen Strähnen, sodass der staubige Boden schon bald mit Haaren bedeckt war. Als der
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