Im Reich der Löwin
Säckchen stapelten. Offenbar war sie gerade damit beschäftigt gewesen, die Einnahmen des Klosters zu zählen, was den Unwillen erklärte, mit dem sie die ranghöchste Schwester anfuhr: »Was gibt es, Schwester Clarissa?« Ihre ausdruckslosen Augen wanderten von einer Frau zur nächsten. Nachdem die Angesprochene berichtet hatte, was vorgefallen war, erhob sie sich schwerfällig und trat hinter dem Schreibtisch hervor, um die Arme vor der Brust zu verschränken. Wenngleich sie ihren vollen Busen – wie um sich für ihre Weiblichkeit zu bestrafen – so stark geschnürt hatte, dass er kaum mehr sichtbar war, verriet ihre ausladende Rückseite, dass sich unter den weiten Falten des züchtigen Gewandes die prallen Rundungen einer in ihrer Jugend vermutlich attraktiven Frau versteckten. »Da Ihr den wahren Sinn eines Kruzifixes offenbar nicht verstanden habt, werde ich dieses Schmuckstück an mich nehmen, solange Ihr in meinem Kloster verweilt«, stellte sie schließlich nüchtern fest. »Und du solltest zusehen, dass du dich in Zukunft nicht außerhalb der Küche blicken lässt«, fuhr sie die immer noch leise schluchzende Küchenmagd an. »Denn beim nächsten Mal gibt es kein Pardon.« Mit diesen Worten kehrte sie dem Mädchen den Rücken und befahl an ihre Untergebenen gerichtet: »Lasst uns allein!« Kaum war die Tür hinter den Nonnen ins Schloss gefallen, als sich die Äbtissin mit einem Kopfschütteln von Jeanne abwandte, eines der mit schweren Eisenbeschlägen verstärkten Kästchen öffnete, um das Kruzifix hineingleiten zu lassen, und mit einem Seufzer beschied: »Ich fürchte, ich werde der Königinmutter nicht berichten können, dass Ihr Eure Lektion in Demut und Gehorsam inzwischen gelernt habt«, stellte sie fest und trat erneut auf Jeanne zu. »Vielleicht hilft es Euch, Euren Platz in dieser Abtei zu finden, wenn Ihr die nächsten zwei Wochen nur Wasser und Brot zu Euch nehmt.« Nur mit Mühe verbiss sie sich ein kaltes Lächeln, als sie den Trotz in Jeannes Augen las. Diese junge Frau würde sich niemals in die strengen Regeln des Ordens einfinden, dachte sie bitter, bevor sie fortfuhr: »Ihr werdet sowohl bei Tisch als auch beim Chorgebet getrennt stehen müssen«, setzte sie hinzu. Dann ließ sie sich wieder auf den harten Stuhl hinter ihrem Schreibtisch sinken. »Ab heute werdet Ihr Eure Zelle nur noch mit meiner ausdrücklichen Erlaubnis verlassen!« Als Jeanne empört etwas darauf erwidern wollte, hob die Äbtissin gebieterisch die Hand und befahl resigniert: »Tut Buße. Bereut Euren Hochmut und bittet Gott um Einsicht.« Damit war die Unterhaltung für sie beendet. Nachdem sie mit einer kleinen Glocke eine der in ihren Nebenräumen beschäftigten Schwestern herbeigerufen hatte, befahl sie dieser: »Schließ sie ein und bring mir den Schlüssel.«
Die Normandie, Aumâle, Juli 1196
»Dieser ehrlose Mistkerl wird noch bereuen, mich hintergangen zu haben«, tobte Richard Löwenherz. Er starrte von einem Hügel in etwa einer Meile Entfernung auf die Festung Aumâle hinab, der Philipp von Frankreich gemeinsam mit Truppen Balduin von Flanderns und dem eidbrüchigen Grafen Wilhelm von Ponthieu – dem Gemahl von Alys von Frankreich – innerhalb nur einer Woche so zugesetzt hatte, dass der Kastellan bereits Unterhändler in das französische Lager entsandt hatte. Sein Zorn richtete sich gegen den jungen Grafen von Ponthieu, da dieser sich mit dieser Aktion gegen alle Zweifel auf die Seite seines Schwagers – des Königs von Frankreich – stellte. »Ich hätte ihn gleich beim Weihnachtsfest in Poitiers gefangen setzen sollen«, knurrte er, riss Roland den Schild aus der Hand und rammte den Helm mit dem Nasenschutz auf den Kopf, um seinen Männern das Zeichen zum Vorstoß zu geben. Nachdem ihn die Nachricht von der Belagerung in Rouen erreicht hatte, wo die neuen Ritterverbände aus England trainiert wurden, hatte Richard mit einem Sturm auf Nonancourt reagiert, das sich ihm ohne größeren Widerstand ergeben hatte. Daraufhin war er unverzüglich nach Süden aufgebrochen, um Philipp und Wilhelm für ihre Frechheit zu bestrafen und sie in die Schranken zu weisen. Allerdings, dachte Roland bedrückt, als er den Blick über das scheinbar endlose Meer aus flandrischen, burgundischen und französischen Soldaten gleiten ließ, schien es eher so, als sei der hitzköpfige englische König sehenden Auges in eine Falle getappt, die bereits dabei war, zuzuschnappen. Denn am Horizont hinter ihnen blitzten
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