Im Reich der Löwin
Otto kaum unterschiedlicher sein können als der äußerlich weichlich wirkende Lackland, dessen voller Mund an den eines Mädchens erinnerte. Ob er damit wohl jemals einem Mann einen Liebesdienst erwiesen hatte?, fragte sich Otto unvermittelt, als John einem der französischen Adeligen einen abschätzenden Blick zuwarf. Der englische Chronist, der Gerüchten zufolge auf dem Zug ins Heilige Land Richard Löwenherz‘ Lager geteilt haben sollte, ließ diese Vermutung berechtigt erscheinen. Immerhin klebte er wie ein Hündchen an den Fersen seines neuen Herrn. Aber vermutlich täuschte der Schein – wie so oft bei dem undurchsichtigen Lackland! Wie Otto seinen Onkel kannte, bereitete es diesem sicherlich weitaus mehr Freude, eine Frau zu demütigen als einen Mann zu beglücken! Er lächelte verächtlich. Wenn die wenig schmeichelhaften Geschichten, die allerorts kursierten, der Wahrheit entsprachen, dann würde er sich vor dem Bruder des Königs in Acht nehmen müssen! Auch wenn er nicht viel auf dessen kriegerische Talente gab – die ohne die Hilfe seiner erfahrenen Generäle mehr als mangelhaft ausfielen – war Otto sich der Gefahr, die der jüngste Sohn Aliénor von Aquitaniens darstellte, durchaus bewusst. Für dessen maßlosen Ehrgeiz musste Otto als Favorit des Königs mehr darstellen als nur ein rotes Tuch!
Poitiers, Abtei Sainte-Croix, Anfang August 1196
»Es ist eine Schande, wie sie behandelt wird!«, erboste sich Catherine of Leicester, deren dreieinhalbjährige Zwillinge wild über den vertrockneten Rasen des Klostergartens jagten. Ihre Augen funkelten vor Empörung, als sie den Blick von dem winzigen, vergitterten Fensterchen der Zelle abwandte, in der ihre Freundin, Jeanne de Maine, seit drei Monaten wie eine Gefangene gehalten wurde. Nur selten durfte die erschreckend abgemagerte, bleiche junge Frau die Beengtheit ihrer Kammer verlassen, um einige Minuten lang die frische Luft des Gärtchens zu genießen. Doch wurde sie von ihren wenig gesprächigen Begleiterinnen stets von den anderen Frauen ferngehalten. »Die Äbtissin muss sich doch erweichen lassen!« Berengaria von Navarra, die ebenfalls die Gelegenheit genutzt hatte, einen der – aufgrund des Drucks der Königinmutter – immer seltener werdenden Augenblicke mit ihrem Sohn, Gerard, zu genießen, schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich habe alles versucht«, erwiderte sie. »Aber selbst eine großzügige Spende kann die Strafe nicht mildern.« Sie zuckte bedauernd die Achseln. »Es liegt einzig und allein in Jeannes Hand, wann sie wieder auf freien Fuß kommt«, stellte sie nüchtern fest. »Sie muss lediglich um Vergebung für ihre Sünden bitten und wahre Reue zeigen«, setzte sie mit einem halbherzigen Lächeln hinzu. »Dann darf sie wieder an den Mahlzeiten teilnehmen und das Novizinnengewand tragen.« Catherine lachte. »Vorher schließen Philipp und Euer Gemahl Frieden!« Eine Zeit lang schwiegen die Frauen und verfolgten das Spiel der Kinder, die sich einen Spaß daraus machten, einem wütend fauchenden Kater mit einem Stöckchen zuzusetzen.
»Kann denn die Königinmutter nicht einschreiten?«, ließ sich Lady Marian vernehmen. Sie hielt mit beiden Händen ihren prallen Bauch umfasst. In weniger als drei Wochen würde sie niederkommen, und auch wenn sie sich über das lang ersehnte Glück freute, schlichen sich doch immer häufiger Sorgenfalten auf ihr ernstes Gesicht. Zu viele Frauen hatte sie im Lauf ihres Lebens im Kindbett sterben sehen, als dass sie sich der Gefahren nicht bewusst gewesen wäre, die eine Geburt barg. »Aliénor wird alt«, erwiderte Berengaria nach einem vorsichtigen Blick über die Schulter, der die anderen beiden Damen erahnen ließ, wie viel Respekt sie vor der energischen Königinmutter hatte. »Früher hätte sie mehr Verständnis für die Liebe gehabt«, stellte sie fest. Auch ihre eigene Beziehung zu Ralph de Beaufort geriet immer mehr in den Brennpunkt des königlichen Missfallens. Mehr als einmal hatte Berengaria ihre Schwiegermutter ausdrücklich darauf hinweisen müssen, dass sie ihr Ehrenwort gegeben hatte, Berengarias Liebhaber nicht durch Schikanen von ihr fernzuhalten. »Aber Jeanne ist ihre Großnichte!«, warf Catherine empört ein. »Als ob sie nicht schon genug durchgemacht hätte«, grollte sie und bückte sich, um ihrer Tochter mit einem geistesabwesenden Lob ein trockenes Blatt abzunehmen, das diese ihr voller Stolz präsentierte. »Ist es wahr, dass sie ihrem ersten Gemahl davongelaufen
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