Im Reich der Löwin
inzwischen auf die für Flandern unerlässlichen Lebensmittellieferungen aus dem Süden Englands ausgeweitet hatte, kam der Überfall auf St. Valery einem Todesstoß für die Grafschaft gleich. Ohne Getreide und Pökelfleisch von der Insel würden die Bewohner des Gebietes schon bald dem drohenden Hungertod trotzen müssen. Was – so hoffte Richard – Balduins sittenstrenges und religiöses Gemüt erweichen und ihn zu einer Abwendung von Philipp veranlassen würde.
Während er mit einer Mischung aus Ekel und Faszination dabei zusah, wie ein zerlumpter Seemann nach dem anderen von den Galgenstricken losgeschnitten und auf einen erschreckend schnell anwachsenden Haufen geworfen wurde, bemühte sich Roland, das immer stärker werdende Kratzen in seiner Kehle zu ignorieren. Auch wenn ihm der Gestank der brennenden Schiffsplanken würgende Übelkeit verursachte. »Wir werden ja sehen, wie lange er dem Druck standhält«, zischte Richard, der die Hinrichtung ebenfalls mit grimmiger Miene verfolgte. 5 000 Silbermark hatte Philipp von Frankreich Gerüchten zufolge dem Grafen Balduin dafür bezahlt, dass er ihn im Kampf gegen Richard Löwenherz unterstützte. Aber da inzwischen auch die Lebensmittellieferungen ausblieben, würde Philipp sich mit dieser Entschädigung keine lange Frist mehr erkaufen können. Zwar konnte Balduin versuchen, über das östlich gelegene Herzogtum Lothringen oder das deutsche Reich an die benötigten Güter zu gelangen. Doch würde der Transport über den Landweg aufgrund der hohen Zölle weitaus mehr Geld verschlingen als die Lieferungen aus England. Wäre dies das einzige Problem gewesen, hätte der Graf es sicherlich zu lösen vermocht. Allerdings hatten – Berichten von Richards Spionen zufolge – die Tuchweber und -händler in Gent und Brügge den Druck auf ihren Landesherren inzwischen so weit erhöht, dass dieser sich in einer verzweifelten Lage befand. Ohne die Unterstützung der zu mächtigen Gilden zusammengeschlossenen Handwerker, Grundbesitzer und Handelsherren, die eine selbstständige Stadtverwaltung betrieben, waren Balduin die Hände gebunden.
Als ein kaum zehnjähriger Schiffsjunge auf das Schafott gezerrt wurde, wo ihm der Henker die Schlinge um den dürren Hals legte, hob Roland den Blick zu seinem Halbbruder und platzte, ohne nachzudenken, heraus: »Er ist doch noch so jung! Könnt Ihr ihn nicht begnadigen?« Kaum hatten die Worte seinen Mund verlassen, hätte er sich am liebsten die Zunge abgebissen, da Richard zornig zu ihm herumwirbelte und ihn barsch anfuhr: »Mitgefangen, mitgehangen! Was denkst du wohl, wo dieses Sprichwort herkommt?!« Er schnaubte. »Du kannst froh sein, dass ich deine Mutter nicht für die Taten ihres Gemahls verantwortlich mache!« Ein harter Glanz trat in seinen Blick, als er Roland kalt musterte. Diesem gefror bei der in dieser Feststellung mitschwingenden Drohung das Blut in den Adern. Wenn Alys von Frankreich für die Vergehen ihres Gatten zur Rechenschaft gezogen werden konnte, dann wäre diese Art der Sippenhaft auch auf ihn auszudehnen! Er schluckte trocken und senkte den Kopf. Warum nur gelang es ihm immer wieder aufs Neue, seinen Halbbruder zu erzürnen?, fragte er sich bitter, während er sich darauf konzentrierte, die Geräusche der Hinrichtung auszublenden. Nach einigen lähmenden Augenblicken, in denen der Knabe das Blut in seinen Ohren rauschen hörte, hob Richard schließlich den Zügel vom Hals seines Streitrosses auf, wendete dieses mit einem Zungenschnalzen und trabte in Richtung Lagerhaus davon. Vermutlich wollte er eine Bestandsaufnahme der beschlagnahmten Ladung machen, dachte Roland. Er verharrte noch einige Zeit auf der Stelle, ehe auch er seinen Wallach antrieb, um sich an das andere Ende des Ortes zurückzuziehen. Dort wurden die Schreie der Seeleute beinahe vom Tosen des immer mehr auffrischenden Windes übertönt.
Zuckerbrot und Peitsche waren die ersten Begriffe gewesen, die ihm bei Richards Plan, den Hafen niederzubrennen durch den Kopf geschossen waren. Da sich der flandrische Graf nicht auf diplomatische Art und Weise davon überzeugen ließ, sich mit Richard Löwenherz zu verbünden, hatte dieser beschlossen, Balduin aufzuzeigen, wie wenig profitabel sein Bündnis mit Frankreich sein konnte. Wenn Balduin das Angebot annahm, das englische Boten ihm vermutlich in ebendieser Minute überreichten, dann winkten ihm ein jährliches Rentenlehen über 5 000 Silbermark sowie eine augenblickliche Aufhebung der Seeblockade.
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