Im Reich der Löwin
»Ausnahmsweise hat er damit nichts zu tun.« Der Ausdruck in ihren Augen ließ Jeanne ihren eigenen Kummer vergessen. So viel Schmerz und Trauer mussten einem Menschen das Herz zerreißen! Wenn sie doch nur etwas tun könnte, um der Unglücklichen zu helfen! Ehe sie der englischen Königin ihr Mitgefühl aussprechen konnte, riss sie die Stimme der Nonne – die ihre Stickarbeit beendet zu haben schien – aus den Gedanken und ließ sie herumfahren. »Eure Zeit ist um. Kommt!«
Die Normandie, Festung Milli, Mai 1197
Nicht sicher, ob er lauthals lachen oder Richard Löwenherz alarmieren sollte, beobachtete Roland, den eine Abteilung Panzerreiter von seinem Halbbruder getrennt hatte, William Marshal, den Earl of Pembroke. Dieser verabreichte dicht vor ihm dem Vogt der Festung Milli, den er mit einem gezielten Schwerthieb aus dem Sattel gestoßen hatte, eine solche Tracht Prügel, dass dem Franzosen nichts weiter übrig blieb, als auf die Knie zu fallen und mit den Armen seinen inzwischen unbewehrten Kopf zu schützen. Wie ein junger Mann traktierte der graubärtige Pembroke den Vogt, dessen Untergebenen es im Herzen des Kampfes nicht viel besser erging, mit Schlägen und Tritten. Wüste Flüche begleiteten die wütenden Hiebe. Eingekeilt zwischen zwei Rittern, blieb Roland nichts weiter übrig, als dem Gefecht mehr oder weniger tatenlos zuzusehen. Doch da die ersten Abteilungen der gestürmten Festung sich bereits ergeben hatten, konnte es nicht mehr lange dauern, bis auch der Rest kapitulierte. Nach dem Überfall auf den Hafen von St. Valery hatte Richard beschlossen, einen Vorstoß auf das Umland von Gisors zu wagen. Offenbar war er der festen Überzeugung, dass sich die Schlüsselfestung des normannischen Vexins nur einnehmen ließ, wenn ein Belagerungsgürtel um sie gezogen würde, welcher der Burg früher oder später den Nachschub abschneiden würde. Folglich hatte er befohlen, die Festung Milli anzugreifen, da ihm Gerüchte zu Ohren gekommen waren, dass der Vogt des Kastells sich damit brüstete, Philipp von Frankreich bei der Eroberung von Gisors wertvolle Dienste geleistet zu haben. Dies war vermutlich auch der Grund, warum William Marshal – der inzwischen mit der bloßen Faust auf sein Opfer einschlug – nicht von dem Mann ablassen wollte, obwohl dieser bereits besinnungslos am Boden lag.
Als Roland anfing, ernsthaft um das Leben des Kastellans zu fürchten, verkündeten drei kurze Fanfarensignale die Kapitulation der Festung. Daraufhin löste sich das Getümmel um ihn herum in Windeseile auf, um Richard Löwenherz Platz zu machen, der hocherhobenen Hauptes über das Schlachtfeld trabte. Angezogen von dem Ring der Schaulustigen, der sich mit der Geschwindigkeit eines heranziehenden Unwetters um den Earl of Pembroke und dessen Opfer bildete, überließ es der englische König seinen Männern, die Gefangenen zusammenzutreiben und auf ihren Lösegeldwert zu taxieren. Er selbst kam an Rolands Seite zum Halten, drückte dem jungen Mann den Zügel in die Hand und sprang mit einem Stirnrunzeln aus dem Sattel. Das Scheppern seiner Rüstung ließ die Gaffer aufblicken und respektvoll zurückweichen, sodass Löwenherz sich direkt hinter William Marshal aufbauen und dessen zum nächsten Hieb erhobenen Arm ergreifen konnte. Mit warnendem Finger gebot er Einhalt, als der Ritter herumwirbelte, um den Störenfried zu züchtigen. »Ihr benehmt Euch wie ein ungezogener Knabe«, rügte der König den vor Zorn bleichen Earl of Pembroke, der beim Anblick des Königs widerstrebend von dem Franzosen abließ. »Was habt Ihr Euch nur dabei gedacht? Überlasst es den jungen Rittern, ihr Leben bei derartigen Streichen aufs Spiel zu setzen«, schalt Richard streng. »Solcherlei Verhalten ziemt sich nicht für einen Mann Eures Alters und Eurer Stellung!« Mit beinahe komischer Langsamkeit fiel die ungehemmte Wut von dem graubärtigen William Marshal ab. Nach einem kaum wahrnehmbaren Augenblick des Zögerns schlug er den Blick nieder und murmelte etwas, das Roland aus der Entfernung nicht verstehen konnte. Froh, sich nicht selbst im Mittelpunkt des königlichen Missfallens zu befinden, betrachtete Roland den Vater des immer noch spurlos verschollenen Humphrey Marshal – über dessen Verbleib niemals wieder ein Wort gefallen war – mit einer Mischung aus Verwunderung und widerstrebender Anerkennung. Wie sehr er seinen König liebte! Das unterdrückte Zittern, das durch den Körper des Earls lief, verriet dessen Erregung.
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