Im Reich der Löwin
Ein weiterer Vorteil eines Bündniswechsels, den Richard dem jungen Grafen in Aussicht stellte, bestand aus einer Fülle von Geschenken, die bereits auf Karren verladen worden waren. Woher nahm Richard nur immer diese Gewissheit?, fragte sich Roland mit einem leichten Stich des Ärgers. Warum gelang es ihm selbst nicht mit derselben Mühelosigkeit, jemanden dazu zu überreden, etwas zu tun, das diesem im tiefsten Inneren eigentlich widerstrebte? Er seufzte. Wenn er diese Fertigkeit erlernen könnte, dann wäre es ein Leichtes, Richard davon zu überzeugen, Jeanne aus der Klosterhaft zu befreien und sie ihm zur Gemahlin zu geben. Immerhin war er inzwischen achtzehn Jahre alt! Unwillkürlich ballte er die Rechte zur Faust und grub die Fingernägel in die Handflächen. Und wann würde Löwenherz ihn endlich zum Ritter schlagen? Die Ungeduld, die ihn von Tag zu Tag mehr zermürbte, würde ihm irgendwann den Verstand rauben! Zwar mussten Knappen für gewöhnlich bis zu ihrem einundzwanzigsten Lebensjahr Dienst tun. Doch im Falle eines Krieges, in dem sie sich schon frühzeitig bewähren konnten, war es üblich, dass ihre Dienstherren sie aus dem Knappenstand entließen und sie für den Ritterschlag vorschlugen. Resigniert ließ Roland sich aus dem Sattel gleiten und warf sich auf einen Strohballen, um seinen müden Rücken auszuruhen. Hätte er sich doch nie dazu verleiten lassen, seinem Halbbruder die Stirn zu bieten!, haderte er mit sich selbst. Dann wäre er jetzt nicht in dieser Lage! Aber wie seit seiner frühesten Kindheit stand ihm sein feuriges Temperament im Weg. Erschöpft stützte er das Kinn in die Handflächen und starrte auf die nervös scharrenden Hufe seines Apfelschimmels. Wenn er doch nur weniger aufbrausend wäre!
Grafschaft Anjou, Abtei Fontevrault, April 1197
Völlig andere Gefühle hegte in diesem Moment seine Geliebte in ihrem Gefängnis in Poitiers. Mit einem wohligen Seufzer presste Jeanne die Nase in die beinahe faustgroße Rosenblüte und sog den betörend schweren Duft der Blume ein. Zäh wie Honig vermischte er sich mit den übrigen Aromen des Gartens – dem Wohlgeruch der schneeweißen Akazienblüten, dem Hauch des jungen Flieders und dem warmen, würzigen Duft des saftig grünen Grases. Bedächtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, genoss das Gefühl des unter ihr nachgebenden Erdreiches und blickte nur selten zu ihrer Aufseherin, die im Schatten des Kreuzganges an einer Stickarbeit für den Altar der Kapelle arbeitete. Seit einigen Wochen war ihre Strafe gelockert. Sie durfte wieder an Mahlzeiten und Gebeten teilnehmen sowie ausgedehnte Spaziergänge in dem von hohen Büschen abgeschirmten Garten unternehmen. Bei diesen war es ihr sogar gestattet, sich mit den anderen Nonnen zu unterhalten. Auch das schlammfarbene Büßergewand hatte sie ablegen und gegen ein helleres Habit eintauschen dürfen, das bei jedem ihrer Schritte raschelte. Vorsichtig darauf bedacht, sich nicht an den scharfen Dornen der Rose zu stechen, hob sie die Hand an die Brust, um mit Daumen und Zeigefinger das hölzerne Kruzifix zu ertasten, das ihr in den vergangenen Wochen Halt und Trost gespendet hatte.
Im Laufe der sich endlos dehnenden einsamen Stunden hatte die junge Frau mehr und mehr Zeit im Gebet verbracht; hatte Gott angefleht, ihr Schicksal zu erleichtern, ihren Geliebten zu ihr zurückzuführen und diesen in den zahllosen Kämpfen, die er in der Zwischenzeit ausfechten musste, zu beschirmen und vor Unheil zu bewahren. Immer eindringlicher war ihr Bitten geworden. Doch scheinbar stießen sowohl ihre Worte als auch ihre bitteren Tränen auf taube Ohren. Verzweifelt war sie Nacht um Nacht aus unruhigen Träumen aufgeschreckt, in denen Roland blutig und verstümmelt die Hände nach ihr ausgestreckt und ihren Namen gerufen hatte. Und je länger diese Bilder sie bedrängt und geängstigt hatten, desto mehr hatte sie befürchtet, in den Wahnsinn abzugleiten. Ihre geistige Stärke war von Stunde zu Stunde weiter geschwunden. Sie hatte bereits mit dem Gedanken gespielt, fortan die Nahrung zu verweigern, um ihren Tod zu beschleunigen, als ihr eines Tages bei der Meditation eine leise Stimme eingegeben hatte, was Gott von ihr erwartete. Weshalb sie noch in dieser Woche die Äbtissin um Aufnahme in den Orden bitten würde. Wenn es Gottes Wille war, dass sie ihm zuerst als Novizin und dann als Heilige Schwester diente, wenn dies der Preis für das Leben ihres Geliebten war, dann war Jeanne bereit, dieses Opfer
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