Im Reich der Löwin
seit Herbst des vergangenen Jahres die Gemüter erhitzte, zu vernehmen. Wenn sie ihr Geld nicht für all die prunkvollen Gewänder verschwenden würden, wäre es um die Kriegskasse sicherlich besser bestellt!, fuhr es ihm durch den Kopf, als er blinzelnd die Augen schloss und den Blick von den im Fackelschein gleißenden Gold- und Silberstickereien abwandte. »Angelo.« Mit einer müden Handbewegung gab er seinem Camerlengo zu verstehen, dass dieser das Urteil verlesen sollte, das – wenn die Gier ihnen nicht die Sicht vernebelte – beide Parteien zufriedenstellen sollte. Gebannt folgten der Kläger, Walter von Rouen, die Bischöfe von Rouen und Poitou sowie William Longchamp, der engste Vertraute von Richard Löwenherz, jeder Bewegung di Carpas mit Habichtsaugen. Als dieser vortrat und sich vor den Versammelten verneigte, lief ein ungeduldiges Murren durch den Raum. » Signori «, verkündete die rechte Hand des Papstes mit sichtlichem Genuss. »Seine Heiligkeit hebt das Interdikt über die Normandie auf.« Nur mit Mühe verkniff sich der erbleichende Walter von Rouen einen erzürnten Ausruf, als der Camerlengo fortfuhr. »Richard Löwenherz wird zu einer jährlichen Zahlung von 1 500 Silbermark angehalten, die in die Kasse des Bistums Rouen fließen soll.« Hatte es eben noch ausgesehen, als wolle der streitbare Walter protestieren, musste er bei diesen Worten an sich halten, um nicht triumphierend zu lächeln. Was für Heuchler sie doch alle sind!, durchzuckte es Angelo di Carpa, als er das Pergament näher an die Augen hielt, um den nächsten Absatz besser lesen zu können. »Zudem soll Walter von Rouen eine territoriale Kompensation zukommen, die dieser persönlich mit dem englischen König verhandeln wird.« Da die Angelegenheit damit erledigt war, rollte er das Schriftstück wieder zusammen, verneigte sich erneut vor den Anwesenden, um dem eingenickten Colestin aus dem tiefen Stuhl zu helfen und den Papst behutsam die Stufen hinab auf die Tür zuzuführen, die in dessen Gemächer führte. Es würde sicherlich nicht mehr lange dauern, bis er starb, dachte di Carpa bedauernd, als er Colestins schweres Atmen vernahm. Er mochte den alten Mann, da dieser tief im Kern seines Wesens ein aufrichtiger Charakter war – was man nicht von vielen Mitgliedern der »Heiligen Mutter Kirche« behaupten konnte. Es war Reue gewesen, die den gebrechlichen Papst zu dieser späten Wiedergutmachung veranlasst hatte – Reue dafür, dass er bei der rechtswidrigen Inhaftierung des englischen Löwen durch Leopold von Österreich tatenlos zugesehen hatte. Denn eigentlich hätte er Richard Löwenherz aufs Schärfste dazu ermahnen müssen, die okkupierte Zollstation an Rouen zurückzugeben und sein Bauvorhaben zu stoppen. Nun, dachte di Carpa, als er Colestin in seinen Schreibsessel geholfen hatte. So haben wenigstens beide Seiten etwas davon. Und schließlich konnte man die Festung nicht einfach wieder abreißen!
Grafschaft Ponthieu, St. Valery, April 1197
Die Schreie der wie Vieh auf die Galgen am Landungssteg zugetriebenen Seeleute vermischten sich gellend mit dem Schlagen der Äxte und dem Prasseln des Feuers, das – angefacht von einem starken Atlantikwind – Mäste und Bordwände der Schiffe im Hafen von St. Valery zerfraß. Meterdicke Ruß- und Rauchfahnen stiegen in den Himmel, dessen bleiernes Grau einen der für diese Jahreszeit typischen Frühjahrsstürme verhieß. Über den wenigen noch intakten Dächern der Siedlung zogen Möwen ihre Kreise, die immer wieder frech zwischen die Männer stießen, um einzelne, von Bord geschaffte Fische zu ergattern und triumphierend in Sicherheit zu bringen. Nachdem das kleine Fischerörtchen von der Streitmacht des englischen Königs überrannt und geplündert worden war, hatte Löwenherz seinen Männern befohlen, die Besatzungen der vor Anker liegenden englischen Schiffe gefangen zu nehmen und die Blockadebrecher bis auf den letzten Schiffsjungen hinzurichten. Kein Flehen und Bitten konnte den König erweichen. Denn dieser wollte mit dem Überfall auf den Hafen sowohl dem siebzehnjährigen Wilhelm von Ponthieu – dem Gemahl Alys von Frankreichs – als auch dem mit Philipp II. verbündeten Grafen Balduin von Flandern einen Denkzettel erteilen, den diese beiden so schnell nicht vergessen würden. Seitdem Philipp von Frankreich und Balduin von Flandern als Verbündete auftraten, hatte Richard das Wollembargo verschärfen lassen. Und da er die vor einem Jahr eingerichtete Blockade
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