Im Reich der Löwin
Die nächsten Wochen und Monate würden Gefahren bergen, die er sich nicht einmal ausmalen konnte. Doch da er sich ohnehin den Rest seines Lebens vor Lackland auf der Flucht befinden würde, musste er sich so schnell wie möglich damit abfinden! Er drehte sich müde auf die Seite, um die wenigen Stunden, die ihm bis zum Tagesanbruch verblieben, zu ruhen. Und wenn er bis ans Ende der Welt fliehen musste, hatte er sich kurz vor seinem Aufbruch geschworen, wäre dies besser, als John Lackland dabei behilflich sein zu müssen, seinen Bruder zu verleumden und dessen Andenken bei seinen Nachkommen zu beschmutzen! Denn an einer Tatsache gab es trotz der Zurückweisung durch Löwenherz nichts zu rühren: Er war ein guter König, vor dessen strahlender Persönlichkeit ein Charakter wie Lackland zur Unwichtigkeit und Nichtigkeit verblassen würde – ganz egal, wie sehr er versuchte, sich in ein besseres Licht zu rücken!
Château Gaillard, Dezember 1197
»Ihr schuldet mir einen Kuss!« Unangebracht laut hallte die Stimme des Bischofs von Lincoln von den Wänden der Kapelle des Château Gaillard wider, als dieser Richard Löwenherz unwillig am Ärmel seines Surkots packte und forsch hinzusetzte: »Küsst mich! Ich habe einen langen Weg zurückgelegt, um Euch zu sehen!« Mit vor Erstaunen aufgerissenem Mund verfolgte Roland – der ebenso wie der König und etwa vier Dutzend seiner Ritter und Barone an einem von Walter von Rouen zelebrierten, feierlichen Hochamt teilgenommen hatte –, wie der in staubige Reisekleidung gehüllte Hugh of Lincoln sich vor Richard Löwenherz aufbaute und diesen kampfeslustig anfunkelte. In den vergangenen Wochen war der Zank zwischen den beiden eskaliert. Und Richard Löwenherz hatte endlich den Konfiskationsbefehl gegen Hughs Besitz durchgesetzt. Jetzt schien sich der sture Bischof in den Kopf gesetzt zu haben, Richard mit einem Friedenskuss zur Aufhebung des Befehls zu zwingen. Der so Herausgeforderte warf dem graubärtigen Kirchenmann einen hochexplosiven Blick zu, ehe er ostentativ den Kopf abwandte und zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorpresste: »Nein, Ihr verdient keinen Friedenskuss von mir!« Als existiere Hugh of Lincoln nicht, starrte der erzürnte König über dessen kahles Haupt hinweg das Kruzifix über dem Altar an, in dem sich die Strahlen der Sonne fingen. In der Stille, die sich über die Versammelten gesenkt hatte, hätte man das Huschen einer Maus vernehmen können. Mit einem verächtlichen Schnauben trat Hugh noch einen Schritt näher an Richard Löwenherz heran, ergriff dessen roten Umhang und rüttelte unsanft daran. »Im Gegenteil, ich verdiene ihn!«
Unwillkürlich zog Roland, der wie die übrigen Adeligen einen der furchtbaren Wutausbrüche des Königs befürchtete, den Kopf zwischen die Schultern, da er mehr als einmal am eigenen Leib erfahren hatte, wie wenig weise es war, den Löwen zu reizen. Mehrere angehaltene Atemzüge, in denen der König wirkte, wie eine zur Salzsäule erstarrte Figur, geschah überhaupt nichts. Doch dann verzog Richard plötzlich die Mundwinkel zu einem Lächeln, legte Hugh eine der Pranken auf die Schulter und zog diesen in eine Knochen brechende Umarmung. Kaum hatte er den Bischof wieder freigegeben, brach er in dröhnendes Gelächter aus, das sich nach wenigen Augenblicken nervös und schüchtern auf die Reihen der Anwesenden übertrug. Er prustete: »Wenn alle Bischöfe so wären, wie Ihr, würde kein König oder Prinz es wagen, sich mit ihnen anzulegen!« Immer noch lachend, wischte er sich mit dem Handrücken eine Träne aus dem Augenwinkel, legte dem verdatterten Hugh den Arm um die Schultern und führte ihn auf den Ausgang der Kapelle zu. »Ihr sollt Eure Güter wiederhaben«, waren die letzten Worte, die Roland vernahm. Dann verschwanden die beiden hinter der Mauer aus sich erhebenden Männern. Kopfschüttelnd raffte er den mit seinem neuen Wappen geschmückten Mantel und schloss sich den aufgeregt durcheinanderredenden, aus der Kapelle strömenden Adeligen an, die – ebenso wie er selbst – keinen Moment des unglaublichen Schauspiels versäumen wollten. Wie typisch diese Reaktion für seinen Halbbruder war, dachte Roland schmunzelnd. Noch vor wenigen Wochen hatte er den Bischof von Lincoln und seine Verbündeten – die ihm trotz seiner Zusage, Geoffrey FitzPeter als päpstlichen Legaten vorzuschlagen, die geforderte finanzielle Unterstützung verweigerten – mit den unschönsten Ausdrücken bedacht. Dann schließlich
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