Im Reich der Löwin
breite Doppelpforte zuschritt, um sich ebenfalls in die klirrende Kälte des Wintermorgens zu begeben. Altes Ekel!, schimpfte er innerlich. Er schob den Grimm über den Erzbischof jedoch augenblicklich beiseite, als er inmitten der Menge auf dem Marktplatz den von einer züchtigen Haube bedeckten, rostroten Schopf einer alten Bekannten erblickte. Was für eine Überraschung! Was mochte die inzwischen zwanzigjährige Base des Kaisers hier in Köln wohl zu suchen haben?, fragte er sich. Aber bevor er sich einen Weg zu der Schönheit mit den betörenden Augen bahnen konnte, wandte diese sich zu dem Begleiter an ihrer Seite um und warf lachend den Kopf in den Nacken. Wie schade! Offenbar schien sie mit dem schlanken jungen Mann verlobt, wenn nicht gar verheiratet. Ehe sich die Enttäuschung in Ärger verwandeln konnte, kroch bei der Erinnerung an die lustvollen Stunden des Herumtollens, die er während seiner Geiselhaft in Speyer mit ihr geteilt hatte, ein flegelhaftes Grinsen auf seine Züge. Und er kehrte dem Gewühl den Rücken, um sich in die Stille des an den Dom angrenzenden Klostergartens zurückzuziehen.
In Zukunft würde sein Leben vermutlich etwas weniger unbeschwert verlaufen als in den vergangenen zwei Jahren, in denen er sich an der Seite von Richard Löwenherz im Feld hatte austoben können. Der bevorstehende Wahlkampf um den deutschen Königsthron würde ihm ein Höchstmaß an Diplomatie und politischer Gewandtheit abverlangen, da er auf keinen Fall das Vertrauen seines Onkels Richard enttäuschen wollte. Mit einem leisen Brummen duckte er sich unter dem niedrigen Torbogen hindurch und schritt über den von harschigem Schnee bedeckten Pfad auf einen der römischen Grabsteine zu, die aus der Zeit stammten, als an dieser Stelle ein Tempel seine Säulen gen Himmel gereckt hatte. Um sich selbst machte er sich weniger Sorgen als um seinen jüngeren Bruder, Wilhelm, der trotz seiner Jugend vor einigen Wochen zur Stellvertretung des rheinischen Pfalzgrafen – ihres Bruders Heinrich – berufen worden war. Ob die schmalen Schultern des durchgeistigten Vierzehnjährigen dieser Bürde standhalten würden? Das würde wohl nur die Zeit zeigen können. Er war an einem verwitterten Grabmal angekommen, dessen Größe von vergangener Wichtigkeit zeugte. Neugierig grub er die Stiefelspitze in einen der von Schnee und Eis unleserlich gemachten Schriftzüge und entzifferte die Buchstaben:
»Requiescat in pace.«
Dem Namen darunter hatte der Zahn der Zeit bereits derart zugesetzt, dass er nicht mehr zu entziffern war. »Ruhe in Frieden«, murmelte Otto, bevor er weiter Richtung Kreuzgang schlenderte, um die in seinem Kopf herumwirbelnden Gedanken zu ordnen.
Vor den Toren der Festung Gisors, 28. September 1198
Ein Jahr war in relativer Ruhe vergangen und viele hofften bereits, das Land sei für immer befriedet, als der Zwist zwischen Philipp von Frankreich und Richard Löwenherz aufs Neue ausbrach. Auch wenn das letzte Aufbäumen des Franzosen den Engländern eher Zerstreuung als Verdruss brachte. »Mit Gottes Hilfe!«, brüllte der englische König. An der Spitze seiner Streitmacht setzte er der französischen Kavallerie nach, die in höchstem Tempo auf die schmale Brücke vor der Festung Gisor zugaloppierte, um sich dort in Sicherheit zu bringen. »Wir haben sie gleich!« Seine Stimme drang heiser an das Ohr des dicht hinter ihm preschenden Grafen der Touraine, der nicht umhin kam, die an Wahnsinn grenzende Tollkühnheit seines Halbbruders mit einem grimmigen Lächeln zu quittieren. Keine fünf Steinwürfe vor ihnen löste sich die Schlachtordnung der Franzosen in Luft auf, als Ritter und Barone in kopfloser Panik versuchten, sich zu retten und ungeordnet durch das Nadelöhr drängten, um sich schnellstmöglich hinter den mächtigen Toren der Burg zu verschanzen. Die meist dunkelblau unterlegten Covertiuren der Schlachtrösser hoben sich scharf von dem Hintergrund des hellen Kalksteines ab, wohingegen das unter den Engländern vorherrschende Rot den Eindruck erweckte, als bahne sich eine Blutwelle den Weg durch das lang gezogene Flusstal. Das Geräusch der Pferdehufe erstickte die Schreie der Männer, die den heranstürmenden Engländern nicht hatten entkommen können und zum Teil schwer verwundet in die schwarz glänzenden Fluten stürzten. Dort ertranken sie entweder jämmerlich oder schwammen unter größter Mühe ans Ufer, wo sie augenblicklich von den Engländern gefangen genommen wurden. Auch der
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