Im Reich der Löwin
französische König selbst glitt wenig elegant, Kopf voraus über die Mähne seines Hengstes. Doch bevor der triumphierende Löwenherz sich einen Weg durch die Menge der desorientierten Gegner bahnen konnte, hatte ihn bereits einer seiner Untertanen aus dem Wasser gefischt und hinter der Zugbrücke in Sicherheit gebracht.
»Ihr wolltet wohl den Fluss austrinken!«, höhnte Löwenherz lautstark, während sein Widersacher sich auf den Zinnen der Festung den Helm vom Kopf riss, um diesen wutentbrannt auf die Engländer hinabzuschleudern. »Warum gebt Ihr nicht einfach auf?« Der Rest der spottenden Worte wurde von dem Gelächter der englischen Ritter übertönt. Diese hatten in Windeseile und ohne große Mühe über einhundert gegnerische Ritter und ein Vielfaches an einfachen Soldaten gefangen gesetzt. Roland, der bereits drei französische Adelige auf seinem Lösegeldkonto hatte, wendete seinen neu erstandenen Araberhengst, um an die Seite seines Bruders zu traben, der sich vor Freude auf die gepanzerten Oberschenkel drosch.
Nachdem der im vergangenen Herbst geschlossene Waffenstillstand beinahe ein Jahr lang respektiert worden war, entfachte sich der kalte Krieg zwischen den beiden Parteien im Juni 1198 aufs Neue. Grund für das erneute Auflodern des Konfliktes war die Wahl Otto von Braunschweigs zum deutschen König. Er hatte sich gegen den von Philipp von Frankreich unterstützten Philipp von Schwaben durchgesetzt und damit Anlass zu Hass und Zwietracht gegeben. Denn der französische König hatte nicht nur die Schmach einer diplomatischen Niederlage hinnehmen müssen; auch die Mehrzahl seiner besten Kämpfer war in Richards Lager übergelaufen. So waren im Sommer dieses Jahres die Barone der Perche und der Champagne, die Grafen von St. Pol und Guînes sowie der beste Kämpfer der Franzosen, der Graf Renauld de Bologne, zu Richards Truppen gestoßen, um ihm im Kampf gegen ihren ehemaligen Lehnsherrn beizustehen. »Jetzt kann ihm selbst der Papst nicht mehr helfen«, knurrte Richard, der dem im Januar neu gewählten Papst Innozenz III. seine Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Reiches nur schlecht verzeihen konnte. Da ein neuer Kreuzzug bevorstand, hatte der dem greisen Colestin nachgefolgte Heilige Vater die beiden Kontrahenten dazu aufgefordert, im Interesse der Kirche Frieden zu schließen und ihre Energien auf die Niederschlagung des Feindes in Palästina zu konzentrieren. Noch immer fiel es Roland schwer, nicht wie ein unreifer Knabe zu kichern, als er sich an den spontanen Gefühlsausbruch des Königs erinnerte. Dieser hatte den päpstlichen Gesandten unter Androhung einer Tracht Prügel vom Hof gejagt. »Wenn Philipp nicht in meine Bedingungen einwilligt, kann er sehen, wie er ohne Männer einen aussichtslosen Krieg weiterführen will!«
Da sich das Kampfgetümmel an den Ufern des kleinen Flusses inzwischen beruhigt hatte, hatte Löwenherz sein Schlachtross zu den erst langsam eintrudelnden Wagen des Trosses geführt, um sich nach dem Gewaltritt der letzten vier Stunden zu erfrischen. Während er schweigend neben dem König herschritt, ließ Roland die Gedanken zu seiner Gemahlin abschweifen, die in der inzwischen nicht wiederzuerkennenden Festung von Tours mit seinem kaum acht Wochen alten Sohn auf seine unversehrte Rückkehr hoffte. Immer noch wollte ihm das Hochgefühl die Sinne rauben. Denn auch wenn er seit beinahe einem Jahr fast jede Nacht an ihrer Seite zugebracht hatte, erschien es ihm manchmal unwirklich, dass ihr Schicksal eine solch glückliche Wendung genommen hatte. Ein wohliger Schauer lief über seinen Rücken, als sich ungebeten die Erinnerung an ihre Berührung in seinen Kopf stahl. Ehe ein Seufzen in ihm aufsteigen und ihn verraten konnte, wurde er von der Ankunft zweier Unterhändler abgelenkt, die sich – eingekeilt von einem Ring Panzerreiter – vor dem englischen König auf die Knie fallen ließen und Verhandlungen anboten. Da dieser Vorschlag dem Eingeständnis einer Niederlage gleichkam, ließ Richard Löwenherz sie mit einer vernichtenden Antwort ausstatten. Dann schleuderte er ein abgenagtes Hühnchenbein in die Büsche und gab Roland mit einem Nicken zu verstehen, ihm zu folgen. »Es zahlt sich eben doch aus, einen langen Atem zu haben«, bemerkte er selbstgefällig und schlenderte auf eine kleine Anhöhe zu, um den Blick über das verwüstete Schlachtfeld gleiten zu lassen. »Jetzt wird er wohl ein für alle Mal begriffen haben, wer der Stärkere
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