Im Reich der Löwin
und flog weiter über Stock und Stein, verzweifelt bemüht, sich aus der Schwärmerei, die ihm das Herz eng machte, zu befreien. Aber ganz egal, was er auch anstellte, sie ließ ihn nicht mehr los!
»Nur noch ein paar Meilen«, riss ihn der Bass des Königs aus den Träumereien. Dieser wies soeben mit der Hand gen Norden, wo eine riesige, vom Heer der Franzosen herrührende Staubwolke die Sicht auf das Städtchen Vendôme und dessen Festung vernebelte. »Dann haben wir ihn.« Mit einem kehligen Schrei trieb er seinen Hengst noch mehr an, sodass dieser um ein Haar in einem der vielen Löcher in der schlechten Straße zum Straucheln gekommen wäre. »Los!« Immer halsbrecherischer wurde die Jagd der über ein Dutzend Mann breiten Linie der Kavallerie. Und während hinter ihm die Kriegshörner ihren durchdringenden Ruf über die Köpfe der Reiter schickten, duckte sich Roland tiefer über den Hals seines Wallachs und gab sich dem Rausch der Geschwindigkeit hin. Nur noch wenige hundert Schritte lagen zwischen der englischen Streitmacht und dem Eingang in das kleine Tal, als Richard Löwenherz unvermittelt sein Reittier zügelte und mit einem derben Fluch ausstieß: »Dieser verdammte Hasenfuß!« Schon beinahe in greifbarer Entfernung – nur noch durch die dunklen Fluten der Loire von den Angreifern getrennt – machte die französische Armee soeben kehrt und zog sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit nach Norden zurück. Einzig ein kärgliches Häuflein von Armbrustschützen feuerte mit der Wut der Verzweiflung einen dünnen Geschosshagel auf die Feinde ab, um diese davon abzuhalten, den Fliehenden nachzusetzen. »Feigling!«, donnerte Löwenherz, riss mit der Rechten am Zügel seines Hengstes und schickte Philipp eine unfeine Geste hinterher.
Sein Blick hing noch an den in der Sonne funkelnden Rüstungen der Franzosen, und sein Mund formte bereits einen derben Ausruf, als Roland urplötzlich ein Stich der Furcht in den Magen fuhr. Unvermittelt gab der Sattel unter ihm nach und er griff haltlos nach der Mähne seines Wallachs. Alles um ihn herum schien sich zu verlangsamen, als er mit erstaunlicher Kraft durch die Luft geschleudert wurde. Die dürren Blätter der Birken wirkten auf einmal riesig, die Zacken an ihrem Rand überdimensional; die Gesichter der ihn umgebenden Reiter wandten sich ihm viel zu langsam zu, während eine unsichtbare Hand alle Geräusche aus der flimmernden Luft zu wischen schien. Der harte Aufprall trieb ihm die Luft aus den Lungen, und als sein Kopf auf dem festgestampften Lehm aufschlug, wollte ihm der Schmerz den Schädel spalten. »Was …?« Die gekeuchten Worte blieben ihm im Halse stecken, als das Reittier seines Hintermannes mit seinem Apfelschimmel kollidierte, sodass dieser mit einem empörten Wiehern auf die Hinterbeine stieg. Die auf ihn niedersausenden Hufe des Tieres waren das Letzte, das der Knabe sah, bevor er das Bewusstsein verlor.
Rouen, Anfang Juli 1194
Während sich der Nebel der Ohnmacht auf Roland niedersenkte, starrte etwas weiter nördlich – in dem von Richard Löwenherz annektierten Stadtpalast von Rouen – John Lackland den normannischen Söldnerführer Mercadier an und kläffte: »Das glaube ich Euch nicht! Habt Ihr Wasser in den Adern oder Blut?« Immer und immer wieder zeigte er mit dem leicht bebenden Zeigefinger seiner Rechten in Richtung einer nur spärlich bekleideten Magd, deren üppige Kurven die Nähte ihres einfachen Kleides zu sprengen drohten. Es war zum Verrücktwerden! Konnte man denn mit gar nichts Gewalt über diesen Eisblock gewinnen?! Kopfschüttelnd blickte der Ritter mit einem kalten Ausdruck in den Augen auf das Mädchen hinab, das ihn mit einem verführerischen Augenaufschlag bedachte. »Ihr wollt sie nur nicht mit den anderen teilen!«, versetzte Lackland giftig. Ein Schatten der Verachtung huschte über die scharfen Züge des muskelbepackten Normannen, der gemeinsam mit John und einem kleinen Häuflein französischer, deutscher und englischer Söldner die Stadt Rouen gegen den vor etwas über einem Monat von Verneuil nach Norden geflohenen Philipp von Frankreich gehalten hatte. Nach einigen zermürbenden Tagen des erfolglosen Ansturms hatte dieser sich wutentbrannt dem dreißig Meilen südwestlich gelegenen Evreux zugewandt, es niedergebrannt, um sich im Anschluss daran auf den Weg in den Süden zu machen, wo er den Erfolgslauf seines Widersachers – Richard Löwenherz – zu stoppen gedachte. Bei der Belagerung von Verneuil noch an
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