Im Reich der Löwin
Fontevrault, 21. Juli 1194
Das leise Rascheln des einfachen Gewandes schien flüsternd den Kreuzgang entlangzulaufen – beinahe als wolle es den Bewohnern der totenstill daliegenden Abtei ein Geheimnis anvertrauen. Verschwommen fingen sich die Strahlen der hoch am Himmel stehenden Sonne in den eisernen Beschlägen der Türen und Fensterläden der inneren Klosteranlage. Die spitze Schnauze eines schüchternen Mäuschens zuckte in der warmen Sommerluft auf und ab. Und als es keine Gefahr erkennen konnte, huschte das possierliche Tierchen aus seinem Versteck zwischen zwei Steinquadern und verschwand unter einem Hagebuttenbusch, der sich an einen der massiven Steinpfeiler schmiegte, welche das Kreuzrippengewölbe stützten. Auf den steilen Kegeldächern genossen perlgraue Tauben die Hitze des Julitages, dessen Friedlichkeit durch eine laue, von Süden her fächelnde Brise unterstrichen wurde. Als sie ein junges Mädchen dabei beobachtete, wie es sich in einem der Gärten mit einer kampfeslustigen Henne abmühte, verzog sich Jeannes Mund zu einem Lächeln, das sich wenig später in ein Lachen verwandelte, »Es ist so friedlich hier«, stellte sie an Aliénor von Aquitanien gewandt fest, als die beiden Frauen in die Kühle des Wohngebäudes eintauchten. »Ich wünschte, ich könnte für immer hier bleiben.« Ein wehmütiger Ausdruck huschte über ihre Züge, die in den eineinhalb Monaten, die sie bereits in der Klosteranlage zubrachte, fraulicher und abgeklärter geworden waren.
Einen Augenblick lang schwieg die alte Dame, deren hohe Stirn von kunstvoll gelegten Locken betont wurde. Die Farbe ihrer sonst dunkelgrauen Augen erinnerte an diesem Tag an die Oberfläche eines toten Sees. Und auch an den gerunzelten Brauen ließ sich ablesen, dass ihre Gedanken nicht so sorglos waren wie die des Edelfräuleins an ihrer Seite. »Daraus wird vermutlich nichts«, erwiderte sie schließlich seufzend, verlangsamte die Schritte und nahm die Hand ihrer Großnichte in die ihre, deren Knöchel geschwollen und rot waren. »Ich habe gestern einen Boten von Richard empfangen«, ließ sie die junge Frau wissen. »Er will die Ehe mit Berengaria annullieren lassen«, fuhr sie fort und setzte einen Fuß auf die unterste Stufe der Treppe, die in die Gemächer im Obergeschoss des Gebäudes führten. »Er ist der Ansicht, dass die Tochter irgendeines Grafen …«, sie stockte, und ein missfälliges Runzeln grub tiefe Falten in ihre Stirn, bevor sie den Satz vollendete, »ihm den lang ersehnten Thronfolger gebären wird.« Ihre sonst so ruhige Stimme hatte einen zornigen Unterton angenommen. »Hat er denn damit nicht recht?«, wandte Jeanne schüchtern ein und öffnete die schwere Tür zu einer der Wohnkammern, um Aliénor den Vortritt zu lassen. »Er ist ein Narr!«, brauste diese daraufhin auf, zog sich mit einer unwilligen Geste den Schleier vom Kopf und ließ sich undamenhaft in den hochlehnigen Stuhl fallen, der direkt an einem der Fenster stand.
»Die meisten seiner Gespielinnen habe ich für ihn ausgesucht.« Sie hob abwehrend die Hand. »Sieh mich nicht so schockiert an!« Mit einer ungeduldigen Geste forderte sie Jeanne dazu auf, sich ebenfalls auf einem der Stühle niederzulassen. Nachdem das Mädchen die Röcke ihres Bliauds unter sich zurechtgezupft hatte, nahm es hastig Platz und blickte die Königinmutter erwartungsvoll an. »Er kann keine Kinder zeugen!« Die Verzweiflung in den dunkelgrauen Augen verriet der jungen Frau, wie schmerzhaft dieses Eingeständnis für die alte Dame war, und sie schlug rasch den Blick nieder, um die Königinmutter nicht in Verlegenheit zu bringen. »Es muss um alles in der Welt verhindert werden, dass er sich eine neue Gemahlin nimmt«, fuhr Aliénor nach einigen Atemzügen etwas ruhiger fort. »Denn wenn auch diese ihm keinen Sohn schenkt, dann weiß das ganze Königreich, wer dafür verantwortlich ist!« Nachdem die beiden Frauen eine Weile lang schweigend ihren Gedanken nachgehangen hatten, legte Jeanne schließlich den Stickrahmen zur Seite, dessen Muster sie mechanisch mit einem kräftigen Rot ergänzt hatte, und fragte beklommen: »Aber wie wollt Ihr ihn von diesem Vorhaben abbringen?« Aliénor schnaubte. »Ich habe heute Morgen einen Mann mit einer Botschaft zu Berengaria von Navarra geschickt. Wenn die Berichte meiner Spione zutreffen, wird auch sie Interesse an der kleinen Charade haben, die ich plane.« Während Jeannes Augen immer größer wurden, erläuterte sie dem Mädchen, was ihre
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