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Im Reich der Löwin

Im Reich der Löwin

Titel: Im Reich der Löwin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Stolzenburg
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Worte bedeuteten.
    Drei Stunden später, als sich die Bewohnerinnen des Klosters nach der Vesper zum Abendessen ins Refektorium begeben hatten, schlich sich Jeanne in die kleine Kapelle, um ohne die Anwesenheit der anderen Frauen Zwiesprache mit Gott zu halten. Nachdem sie eine der dicken Kerzen entzündet hatte, ließ sie sich auf der unbequemen Bank vor dem Altar auf die Knie sinken und grübelte über ihre Situation nach, deren relative Beständigkeit über die Tatsache hinwegtäuschte, dass ihr Schicksal in der Hand eines Mannes lag, über dessen Charakter sie an diesem Tag wenig Schmeichelhaftes erfahren hatte. Zwar schien der König nicht besonders viel von der Heiligkeit der Ehe zu halten. Doch die offenen Worte der Königinmutter hatten Jeanne unmissverständlich klar gemacht, dass ihn eine Frau nur solange interessierte, wie er sich einen Vorteil von ihr erhoffen konnte. Und was hatte sie schon zu bieten, das den mächtigen Richard Löwenherz dazu bewegen sollte, sich mit ihren Problemen abzugeben? Mit einem Seufzer küsste sie das hölzerne Kruzifix, das auf dem schlichten, weißen Altartuch seltsam verloren wirkte, und versuchte, die Erinnerungen an ihre Hochzeitsnacht mit Arnauld zu verdrängen. Die Bilder, die sich in ihr Bewusstsein drängten – der fette, behaarte Bauch über den dürren Beinen, zwischen denen die von grauem Kraushaar halb verdeckte Männlichkeit ihres Gemahls baumelte – jagten ihr einen Schauer über den Rücken. Kein Wunder, dass sich sich viele junge Frauen hinter die schützenden Mauern einer Klosteranlage zurückzogen!
    Ein letztes Dankgebet murmelnd kam das Mädchen schließlich mit steifen Gliedern auf die Beine – erstaunt, dass sich über die Landschaft vor den schmalen Fensterschlitzen bereits tintenschwarze Finsternis gesenkt hatte. Nachdem sie die Schultern gereckt und sich einige Minuten lang die prickelnden Kniekehlen massiert hatte, wandte sie der Kapelle den Rücken und eilte zurück in den Hof, um sich auf dem schnellsten Weg in ihr Schlafgemach zu begeben. Anders als in den ersten Tagen ihres Aufenthaltes hatte sie keine Schwierigkeiten mehr, sich in dem Gewirr der Gänge und Korridore zurechtzufinden. Und auch die schweigsamen Ordensschwestern erfüllten sie nicht mehr mit Unbehagen. Eine große Zahl der Frauen hatte laut Aliénors Aussage ein Schweigegelübde abgelegt, dessen Bruch drakonische Strafen nach sich zog. Je mehr Jeanne über ihre eigene Lage nachgrübelte, desto leichter fiel es ihr, die Gründe nachzuvollziehen, welche die Mädchen und Frauen dazu veranlasst haben könnten, sich den strengen Regeln des Ordens zu unterwerfen. Zwar waren sie hinter den abweisenden Mauern des Klosters mehr oder weniger ihrer Freiheit beraubt. Doch konnte die an eine Festung erinnernde Anlage auch aus einem anderen Blickwinkel gesehen werden. Schließlich dienten die massiven Wände und Tore nicht nur dazu, die Klosterinsassen einzusperren; sie konnten auch die bedrohliche Außenwelt auf Distanz halten!
    Müde und erschöpft stieß sie die unverschlossene Tür zu ihrer Kammer auf, löste das Kinnband der strengen Haube und zerrte an den Schnürungen ihres Bliauds . Nachdem sie das Gewand achtlos hatte zu Boden gleiten lassen, trat sie nur noch mit einem hellblauen Untergewand bekleidet an ein kleines Tischchen, das neben der schmalen Bettstatt und einer wurmstichigen Truhe das einzige Möbelstück in ihrer bescheidenen Unterkunft darstellte, und griff nach einem grobzackigen Kamm. Unter Grimassen entfernte sie die Knoten aus ihren Locken, schlang ein lockeres Band um die Flut und schlüpfte nach einem letzten Blick durch das unverglaste Fenster zwischen die Laken. Während sich tief unter ihr das Gemurmel der Schwestern mit dem Rauschen des aufgekommenen Windes vermischte, sank Jeanne in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Der Süden Frankreichs, die Zitadelle von Angoulême, 22. Juli 1194
     
    »Verdammt, pass doch auf!« Rolands sonnengebräuntes Gesicht nahm eine gräuliche Färbung an, als ein glühender Stich in seine Schulter fuhr. Bei dem Sturz vor drei Wochen – den er nur durch großes Glück überlebt hatte – hatte er sich das Schultergelenk ausgekugelt. Und selbst nach der Schonung der vergangenen Tage kam es immer noch häufig vor, dass die Stelle, mit der er auf dem harten Boden aufgeschlagen war, brannte wie Feuer. Verärgert schlug er Humphrey mit der Linken den Lanzenschaft aus der Hand, mit dem dieser ihn wie zufällig gestoßen hatte. Nach einer

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