Im Reich der Löwin
die Böswilligkeit seines Bruders unterschätzt zu haben.« Ihre Miene verfinsterte sich. »Aber ich habe keinerlei Beweis dafür, dass er William etwas antun wollte«, wandte Catherine lahm ein. Doch die Freundin, deren Besuch sich dem Ende neigte, hob warnend die Hand. »Wenn du jetzt nicht einschreitest, kann es zu spät sein!«
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Keine halbe Stunde später war ein Bote mit einem Brief an Harold of Leicester auf dem Weg in die Stallungen, wo er von Guillaume of Huntingdon abgefangen wurde. Den Zügel seines eigenen Reittieres bereits in der behandschuhten Hand nahm Guillaume dem verunsichert dreinblickenden Bediensteten das Schreiben ab, beruhigte dessen Gewissen mit einem glänzenden Silberstück und zerriss die Botschaft in tausend Fetzen. Ob der einfältige Dummkopf wirklich davon ausging, dass Guillaume den Brief persönlich nach Portsmouth bringen wollte?, fragte er sich mit einem kalten Lächeln, während er beobachtete, wie sich ein Teil der winzigen Pergamentstückchen mit den in einer Rinne gesammelten Exkrementen der Tiere vollsog. Den anderen Teil, aus dem ein zu neugieriger Finder sich die Fakten herleiten konnte, stopfte er achtlos in die Tasche seines Surkots. Wenn die kleine Hure seines Bruders glaubte, ihn so einfach übertölpeln zu können, dann musste er andere Saiten aufziehen! Während sich der in ihm glimmende Hass zu einem lodernden Feuer ausbreitete, stemmte er sich in den Sattel und riss unnötig hart an der Trense seines Wallachs, sodass dieser mit einem empörten Wiehern protestierte. Wie gut, dass alle dachten, er sei auf dem Weg nach Leicester! So konnte er diese Nacht nutzen, um der hochmütigen Gemahlin seines Bruders eine heimliche Lektion zu erteilen. Anschließend würde er aufbrechen und ohne Unterlass nach London reiten. Das Lächeln, das über seine feisten Züge huschte, ließ sein Gesicht noch weicher erscheinen, als es ohnehin schon war. Als sei nichts Ungewöhnliches vorgefallen, trabte er gemächlich durch das von zwei Wachen flankierte Tor, ließ die Zugbrücke hinter sich und tauchte in das Zwielicht des nahen Waldes ein. Dort saß er unter einer ausladenden Kastanie ab, um auf den Einbruch der Dunkelheit zu warten. Sobald die von Norden heranziehenden Wolken den Mond verdunkelten, würde er sich über die in Friedenszeiten unbewachte Ausfallpforte ins Innere der Burg zurückschleichen, um den Plan auszuführen, der in seinem Kopf Gestalt annahm.
Das Schreien einer Eule ließ ihn aufschrecken. Nachdem er einige Augenblicke lang orientierungslos in die Dunkelheit gestarrt hatte, kam die Erinnerung an sein Vorhaben mit aller Macht zurück. Er musste eingenickt sein! Mit einem leisen Fluch rappelte er sich auf, fing sein zwei Dutzend Schritt entfernt im Laub scharrendes Ross ein und trabte so leise wie möglich zur Nordseite der Festung. Dort verschaffte er sich im Schatten des Mauerturms Einlass in die äußere Umzäunung, erklomm die Leiter zur Ausfallpforte und durchquerte auf leisen Sohlen das Wohngebäude der Dienstmannen. Mühsam zog er sich durch die Schlupfpforte neben der Zugbrücke, die den Zugang zum Burghof mit Palas und Bergfried schützte, huschte über den verwaist daliegenden Innenhof und drang über das Küchengebäude in den Wohnbau ein. Am Fuß der Treppe hielt er einen Augenblick inne, lauschte in die Dunkelheit und wartete darauf, dass sich sein dröhnender Herzschlag beruhigte. Wo um alles in der Welt hatte sie ihre Kammer?, fragte er sich – verwirrt von der Vielzahl der Türen. Doch so plötzlich, wie die Verunsicherung gekommen war, fiel sie wieder von ihm ab, als er sich daran erinnerte, dass in der Festung seines Vaters die Räumlichkeiten der Damen stets in der Nähe des gemauerten Kamins zu finden gewesen waren. Folglich wandte er sich nach Westen, wo er nach einigen Schritten vor einer Tür anlangte, deren kostbares Schnitzwerk hoffen ließ, dass er sich auf der richtigen Fährte befand. Mit geschickten Fingern führte er einen dünnen, eisernen Haken in das Schloss, stocherte einige nervenaufreibende Augenblicke darin herum, bevor die Tür schließlich mit einem leisen Knacken aufsprang. Dort lag sie – sorglos schlummernd wie ein unschuldiges Kind. Einige gepresste Atemzüge lang beobachtete er, wie sie die geschlossenen Augen zusammenkniff, die kleinen, neben ihr auf den Laken liegenden Fäuste ballte und wieder öffnete und sich mit jeder Sekunde, die er sie anstarrte, unruhiger hin und her warf.
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Catherine
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