Im Reich der Löwin
der Seite des englischen Königs hatte Mercadier die fünfzig Meilen bis nach Rouen in Gewaltritten zurückgelegt, um auf Richards Befehl hin dem jungen Prinzen bei der Verteidigung der wichtigsten Hafenstadt der Normandie und der Nordgrenze des Vexins zur Seite zu stehen.
An diesem angenehm bewölkten Hochsommertag schienen die Segel der vom Ärmelkanal aus die Seine entlangdümpelnden Handels- und Frachtschiffe, das schmutzige Grau des Flusses aufzuhellen, sodass dieser beinahe wirkte wie ein Strom aus flüssigem Elfenbein. Über der wie durch ein Wunder unbeschädigten Stadt kreisten Möwen und Schwalben, die sich lauthals mit den Spatzen stritten, die immer wieder auf die größeren Vögel niederstießen, um ihnen das Erbeutete abzujagen. Das prunkvolle, aus hellem Stein erbaute Stadthaus, in dem Mercadier, John und die anderen höhergestellten Persönlichkeiten Unterkunft genommen hatten, war wunderbar kühl. Und nachdem die Gefahr einer Belagerung gebannt war, hatten die Männer begonnen, sich den angenehmen Seiten des Stadtlebens zuzuwenden. Da durch den Krieg mit Frankreich der Handel in der Metropole nur eingeschränkt funktionierte, florierten die zwielichtigen Zweige der unter dem Deckmantel der Respektierlichkeit operierenden Häuser, und den leiblichen Genüssen schienen keine Grenzen gesetzt.
»Seht sie Euch doch an«, drängte John und öffnete die Schnürung des leichten Gewandes, welches das Mädchen nur notdürftig bedeckte, sodass ihre Brüste schwer über den tiefen Ausschnitt fielen. »Ich bin sicher, dass Ihr Euch das nicht entgehen lassen wollt!« Er packte die junge Frau grob an den strähnigen, schmutzig blonden Haaren, zog sie näher an sich und ließ die Zunge über ihren Hals gleiten. Es musste doch einen Weg geben, diesen eiskalten Hund zu entflammen, dachte Lackland verdrossen. Irgendwie musste es möglich sein, die entnervende Maske der Beherrschung von dem Gesicht mit dem schmalen Mund zu reißen! »Ich lasse Euch den Vortritt«, lehnte Mercadier schroff ab und wandte sich zum Gehen. »Ihr könnt auch einen der Knaben haben«, schickte John ihm hinterher, bereute die Worte jedoch augenblicklich, als der Normanne, der die Tür schon beinahe erreicht hatte, kehrtmachte und sich direkt vor ihm aufbaute. »Ich habe kein Interesse an solchen Dingen«, zischte er und legte die Hand auf den Knauf seines Schwertes. »Das solltet Ihr Euch besser merken!«
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Wutentbrannt eilte Mercadier den langen Korridor entlang, um seinem Ekel über den Prinzen im Hof Luft zu machen. Als der breite Rücken des Normannen hinter den Stallungen verschwunden war, wandte sich der im Dachgeschoss des Stadthauses untergebrachte Richard of Devizes von dem kleinen Fensterchen ab und ließ sich mit einem Seufzer zurück auf den unbequemen Schemel fallen. Nachdem er einige Augenblicke reglos auf das Stück Pergament vor sich gestarrt hatte, tauchte er die Feder erneut in das Tintenfass und ließ sie über das Schriftstück kratzen.
»Mit der List eines Fuchses vereitelte der tollkühne Lackland, dass sich die normannischen Barone dem französischen König anschlossen und mit ihm gemeinsam den Sturm auf die Stadt eröffneten.
In Windeseile verteilten sich die englischen Boten in der Normandie, um die Herren der Festungen vor dem Franzosen und seinen Zielen sowie dem Zorn des Prinzen zu warnen.
Machtlos und geschlagen musste Philipp schließlich die erfolglose Belagerung Rouens abbrechen. Wütend wie ein ohnmächtiger Knabe eilte er nach Evreux, um die erst vor Kurzem von Lackland eingenommene Stadt niederzubrennen und die wenigen Einwohner abzuschlachten.«
Leise vor sich hin murmelnd senkte der Zisterzienser den müden Schreibarm und überflog das eben Geschriebene mit zusammengezogenen Brauen. Trotz der Enttäuschung und der Eifersucht, die ihm immer noch das Herz zuschnürten, fiel es ihm schwer, die Taten Lacklands in Lobeshymnen umzuwandeln. Der weiche, bartlose Bruder des Königs, in dessen blassen blau-grünen Augen nur ein schwacher Abglanz des Blickes lag, der einst liebevoll auf dem jungen Chronisten geruht hatte, verkörperte genau das Gegenteil dessen, was Richard of Devizes mit dem Attribut der Heldenhaftigkeit verband. Doch andererseits schwelten so viel Neid und Zorn in ihm, dass er bereit war, die Regeln der Geschichtsschreibung zu verletzen. Entschlossen tauchte er den Kiel ein weiteres Mal in die pechschwarze Tinte und fuhr mit seinem Bericht fort.
Frankreich, Abtei
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