Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Reich der Löwin

Im Reich der Löwin

Titel: Im Reich der Löwin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Stolzenburg
Vom Netzwerk:
Neffen des Königs unversehrt wiederzusehen. Doch dessen finstere Miene hatte Otto schon als Knabe nicht sonderlich beeindruckt. Gegen die Sonne blinzelnd durchmaß er mit langen Schritten den Hof, passierte die beeindruckende Brunnenanlage, welche die Festung mit Wasser versorgte, und schloss zu Richard auf, der inzwischen die Zugbrücke erreicht hatte. »Was für ein Abschaum!«, erboste sich Löwenherz soeben und schickte einen hasserfüllten Blick über die Schulter zu Philipp von Frankreich zurück, der bereits auf dem Rücken seines zahmen Zelters saß und Anstalten machte, die Anlage durch die westliche Ausfallpforte zu verlassen. Die Frage ignorierend, die in ihm aufsteigen wollte, als sich die Delegation der Franzosen den Pfad hinabwand, erwiderte Otto zustimmend: »Ich bewundere Eure Langmut. Ein anderer hätte ihm vermutlich schon längst den Schädel gespalten.« Mit einem Laut, der sich verdächtig anhörte wie eine Mischung aus Bellen und Lachen, drosch Richard seinem Neffen die Pranke auf den breiten Rücken und versetzte grimmig: »Wenn du wüsstest, wie sehr ich mir manchmal wünsche, ihn irgendwann allein vor die Klinge zu bekommen«, bemerkte er mit einem harten Zug um den Mund, während er den gepanzerten Stiefel in den Steigbügel setzte und seinen Hengst bestieg.
    Als auch der Earl of Pembroke auf dem Rücken eines temperamentvollen Rappen thronte, griff Otto ebenfalls nach dem Zügel seines Reittieres, das von einem mageren Knappen versorgt worden war, schwang sich in den Sattel und begann, den engen Weg zur äußeren Zugbrücke hinabzutraben. Eine merkwürdig erstickende Stille hatte sich in den wenigen Augenblicken, welche die Männer benötigt hatten, um sich zu organisieren, über die Festung gesenkt. Und während die unter ihnen abfallende Gasse sich immer mehr verengte, hob Otto den Blick zu dem Bergfried, der seinen langen Schatten auf die Reiter warf. Eine Bewegung im Augenwinkel ließ seinen Kopf nach rechts zucken, wo sich in diesem Moment etwa zwei Dutzend französische Fußsoldaten in aller Hast auf eine Leiter zubewegten, die in den Zwinger führte, um diese mit katzengleicher Geschmeidigkeit hinabzuwieseln. Bevor sein Verstand begreifen konnte, was diese Aktion zu bedeuten hatte, öffnete sich sein Mund instinktiv zu einem Warnruf, der jedoch den Bruchteil eines Augenblicks zu spät kam. Der vor ihm reitende Löwenherz hatte gerade den ersten Torturm erreicht, als ein ohrenbetäubendes Krachen die Pferde auf die Hinterbeine steigen ließ. Innerhalb weniger Momente verwandelte sich die mächtige Außenmauer in eine Lawine aus staubigem Schutt, aus dem meterhohe Flammen gen Himmel schlugen. Eine mächtige Explosion zerriss das Fundament des Bergfriedes, woraufhin dieser lächerlich langsam in sich zusammensackte. Während die Tiere in nackter Panik versuchten auszubrechen, hatten die Reiter alle Hände voll damit zu tun, den auf sie niederprasselnden Gesteinsbrocken auszuweichen.

England, Huntingdon, Juli 1195
     
    »Du brauchst keine Angst zu haben«, lockte Guillaume of Huntingdon, trat auf den knapp zweieinhalbjährigen William zu, dessen Amme er mit einigen herrischen Worten ins Haupthaus zurückgeschickt hatte, und hob den Jungen auf den Rücken eines nervös hin und her tänzelnden Falben. Der runde Sandplatz, auf dem für gewöhnlich die Einjährigen an die Zügel gewöhnt wurden, war an diesem Tag besonders schwergängig, da es in der Nacht heftig geregnet hatte. Der Knabe, dessen Augen angstvoll geweitet waren, versteifte sich, als er das riesenhafte Tier unter sich spürte, und verzog den Mund zu einem lautlosen Protest. Allerdings wusste er nur zu gut, dass ihm Tränen bei seinem Onkel nichts nützen würden. Erst vor wenigen Tagen hatte er eine furchtbare Tracht Prügel bekommen, als er sich beim Sturz von einem wackeligen Hocker das Knie aufgeschlagen hatte. »Wenn du ein Ritter werden willst wie dein Vater, dann musst du langsam anfangen, reiten zu lernen«, bemerkte Guillaume mit einem zynischen Lächeln auf den Lippen. Sein für gewöhnlich bleiches Gesicht war von der sengenden Sommersonne gerötet, und die Haut auf der schmalen Nase begann bereits, sich zu schälen. Die dunklen Haare hatte er unter einer kostbar gewobenen Coiffe verstaut, da die Hitze, welche diese in sich aufzusaugen schienen, Kopfschmerzen verursachte. Mit einem leisen Schnalzen der Zunge, griff er nach der langen Peitsche, presste die kleinen Hände des Knaben in die Mähne des Hengstes und

Weitere Kostenlose Bücher