Im Reich der Löwin
ganze Zeit über eines der Kinder bei sich gehabt«, hatte Catherine mit zitternder Stimme gestanden. »Wenn ich Harold auch nur ein Wort von dem, was wirklich vorging, enthüllt hätte, dann hätte er sie getötet!«
Bei der Erinnerung an die Verzweiflung der Freundin ließ Lady Marian voller Mitgefühl den Blick über die schlanke Gestalt der jungen Mutter gleiten, die in dem neuen, elfenbeinfarbenen Gewand beinahe kindlich wirkte. Die dunkelblonden Locken waren zwar unter einem strengen Gebende versteckt, doch an ihrer Schläfe kräuselten sich einige Strähnen bis dicht an die Augen, in denen Furcht und Hoffnung Widerstreit hielten. »Nimm das, du wirst es brauchen.« Ohne auf das Kopfschütteln der Freundin zu achten, drückte Marian ihr einen prall gefüllten Lederbeutel in die Hand, in dem eine stattliche Anzahl schwerer Silbermünzen klimperte. »Aber du gibst mir doch schon zwei deiner besten Männer mit«, protestierte Catherine mit einem Blick auf die am Burgtor wartenden Reiter, deren schwere Rüstungen sie unverwundbar erscheinen ließen. Die beiden Ritter würden Mutter und Kinder nach Frankreich begleiten, um ihnen in dieser Zeit der Kriegswirren Schutz und Geleit zu bieten. »Das kann ich nicht annehmen«, flüsterte sie und wollte das Geschenk von sich schieben. Mit einem tadelnden Stirnrunzeln umschloss Marian Catherines Hand mit der ihren, sodass die Geldkatze in der Faust eingeschlossen war. In ihren Augen lag ein Ausdruck, der keinen Widerspruch duldete. »Du kannst es mir jederzeit zurückzahlen«, beharrte sie. »Sobald du bei Harold angekommen bist.« Mit diesen Worten strich sie der kleinen Aliénor, die vor ihrer Mutter im Sattel sitzen würde, ein letztes Mal über den Kopf und gab den Rittern das Zeichen zum Aufbruch. »Meine Gebete sind mit euch.«
Schweren Herzens blickte sie der kleinen Gruppe nach, als diese in gemächlichem Schritt über die Zugbrücke ritt. Schon bald verschwanden die Pferde hinter dem ersten Hügel. Der Hochsommermorgen war noch jung, und der perlmuttfarbene Horizont versprach einen weiteren brütend heißen Tag. Am nicht weit entfernten Waldrand floh aufgeschrecktes Rotwild zurück in den Schutz des Laubdaches, während Katzen mit steil in die Höhe gerichteten Schwänzen in den Feldern auf Mäusejagd waren. Wenn nur alles gut ging! Inständig hoffend, dass Guillaume erst nach Huntingdon zurückkehren würde, wenn Catherine längst die Sicherheit des Festlandes erreicht hatte, machte Marian mit einem schweren Seufzer kehrt und verschwand grübelnd in dem Gemäuer, das sie in der Abwesenheit ihres Gemahls vor Übergriffen bewahren sollte.
Ein Stadthaus in London, Juli 1195
Zur selben Zeit stützte in der Hauptstadt der Insel der Händler und Steuerbeamte William FitzOsbern müde das unrasierte Kinn in die Hände, während er die in seinem Stadthaus versammelten Bürger resigniert betrachtete. »Steuern, Steuern, Steuern«, stöhnte er und warf den Anwesenden einen Blick zu, der mehr ausdrückte als alle Worte. Sein Kontor war bis zum Bersten vollgestopft mit erregt durcheinanderrufenden Frauen und Männern, die ebenso wie er vom ehemals blühenden Handel mit dem Festland lebten. »Du bist ja selbst einer von diesen Blutsaugern«, erboste sich einer der reichen Tuchhändler, der – wie William selbst – unter den neuen Zöllen der Krone zu leiden hatte. Der Woll-, Tuch- und Gewürzhandel mit Flandern, das wegen seines Bündnisses mit Frankreich mit einer Seeblockade belegt worden war, hatte in den vergangenen Monaten so sehr gelitten, dass viele der Kaufleute fürchten mussten, ihre gesamte Habe zu verlieren. »Wenn Ihr Steuerbeamten ein wenig nachsichtiger wärt, dann fiele es uns allen etwas leichter«, hieb ein dickbäuchiger Weinhändler in dieselbe Kerbe. »Aber wir wissen bald nicht mehr, wo wir das Geld hernehmen sollen!« Ein zustimmendes Raunen lief durch die Versammlung. Vor den kostbaren Bleiglasfenstern flimmerte die drückende Hitze, welche die Stadt seit etwa einer Woche in einer atemraubenden Umklammerung gefangen hielt. Kaum ein Windhauch rührte sich, und die Straßen waren trotz der noch relativ frühen Stunde wie ausgestorben. Nur wer sich unbedingt im Freien aufhalten musste, eilte in die Schatten der Häuser geduckt durch die engen Gassen der Hauptstadt.
»Wenn das nur alles wäre«, brummte die Witwe eines Schiffseigners, deren Wangen von feinen, roten Äderchen durchzogen waren, was ihr das Aussehen eines überreifen Apfels verlieh.
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