Im Reich der Löwin
Schlüsselfestung Gisors immer noch in den Händen des Franzosen. Irgendwie musste es ihm endlich gelingen, Philipp zu überlisten und ihm die unrechtmäßig angeeigneten Gebiete wieder abzujagen! Geblendet schloss er kurz die Augen, als die stechende Sonne hinter den Zinnen der oberen Wehranlage hervortrat und die Rüstungen der Versammelten in gleißendes Licht tauchte.
»Wenn Ihr mir Vaudreuil nicht übergebt, können wir dieses Spielchen bis in alle Ewigkeit weiterführen.« Eine steile Falte grub sich zwischen die rotblonden Brauen des englischen Königs. Das gesamte Frühjahr über hatte Richard die von den Franzosen annektierten Hauptfestungen in der Normandie durch Einnahme der sie umgebenden Vorburgen von den Nachschublinien isoliert. Damit hatte er ihren Wert für Philipp entscheidend gemindert, denn die Kosten für ihren Unterhalt überstiegen nun den strategischen Nutzen. Der vorgebeugte, von einem prunkvollen Brustpanzer geschmückte Oberkörper des riesenhaften Löwenherz ließ den Eindruck entstehen, dass jeder seiner angespannten Muskeln darauf brannte, den kleinwüchsigen Gegner zu zerschmettern. »Nun gut«, lenkte Philipp schließlich nach einer lastenden Pause ein. »Ihr könnt die Festung haben«, zischte er durch zusammengepresste Zähne. Ohne auf einen Befehl zu warten, beugte sich der seiner Grafschaft verlustig gegangene Arnauld de Touraine über die Karte, rollte diese zusammen und verstaute sie in einem ledernen Schlauch. »Damit sollte diese Unterredung beendet sein.« Ein merkwürdiger Ausdruck huschte bei diesen Worten über Philipps weiche Züge. Nachdem Löwenherz das knappe, wenig respektvolle Nicken des anderen erwidert hatte, wandten sich beide Männer zum Gehen.
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Irgendetwas schien faul zu sein an der Sache! Während der kritische Blick seiner blauen Augen von einem zum anderen wanderte, zog Otto von Braunschweig, der dicht hinter seinem Onkel Stellung bezogen hatte, schnuppernd die staubige Sommerluft ein. Roch es in dem überfüllten Innenhof nicht nach Feuer? Misstrauisch wandte er den Kopf, um das Areal der Anlage nach der Ursache des verdächtigen Geruches abzusuchen. Aber so sehr er sich auch bemühte, konnte er nirgendwo die verräterischen Anzeichen eines Brandes entdecken. Vermutlich irrte er sich. Mit einem Schulterzucken warf er den Umhang über den Arm, stülpte den Helm auf den verschwitzten Schopf und folgte seinem Onkel, der mit ausgreifenden Schritten auf die innere Zugbrücke zueilte, wo die Männer ihre Tiere in der Obhut der Knappen zurückgelassen hatten. Nach über einem halben Jahr erschien es ihm immer noch unwirklich, dass er als Heerführer unter Richard dienen und erhebliche Truppenverbände gegen die Franzosen führen durfte. Seit dem schicksalhaften Dezembertag des vergangenen Jahres, an dem der österreichische Herzog Leopold bei Graz vom Pferd gestürzt war, hatten sich die Ereignisse im Leben des jungen Welfen überstürzt. Aufgrund der schweren Beinverletzung, welche Leopold sich bei diesem Missgeschick zugezogen hatte, war eine Amputation unvermeidbar gewesen, und keine Woche später war der Österreicher dem Wundbrand erlegen. Das Bedürfnis, Frieden mit Gott zu schließen, hatte Leopold auf dem Sterbebett dazu veranlasst, eine Reihe von letzten Schritten einzuleiten. Da er die Gefangennahme des Kreuzfahrerkönigs Richard Löwenherz im Angesicht des Todes tief bereute, hatte er den Erzbischof von Salzburg angewiesen, auf sämtliche noch ausstehenden Forderungen an Richard zu verzichten und das bereits gezahlte Lösegeld zurückzuerstatten. Freunde wie Feinde hatten den Tod des Herzogs als göttliche Bestrafung gesehen. Kaiser Heinrich hatte die beiden welfischen Prinzen deshalb so schnell als möglich auf freien Fuß gesetzt, Richard die Erstattung des Lösegeldes angeboten und sich sodann in die Vorbereitungen eines neuen Kreuzzugs gestürzt. Dieser würde ihm nicht nur den Segen des Heiligen Stuhls, sondern auch die Dominanz über das östliche Mittelmeer und somit die Möglichkeit zur Errichtung eines Weltreiches einbringen.
Mit einem Lächeln auf den Lippen dachte der junge Mann an den Tag zurück, an dem ihm der Seneschall des Kaisers mitgeteilt hatte, dass er und sein Bruder frei wären. Nicht einmal drei Wochen hatten die beiden Welfen benötigt, um zu Richard Löwenherz zu stoßen, wo ihre Rückkehr mit einem ausgelassenen Bankett gefeiert worden war. Außer John Lackland schienen alle froh darüber zu sein, die beiden
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