Im Reich der Löwin
die sie nicht wollte, tat ihr leid.
»Aber Ihr könnt sicher sein, dass der Papst die Ehe für ungültig erklären wird«, setzte sie beschwichtigend hinzu. »Immerhin ist sie niemals vollzogen worden.« Jeanne erschauerte. Immer noch verfolgten sie die Bilder ihrer missglückten Hochzeitsnacht, und insgeheim hatte sie beschlossen, niemals wieder einen Mann in ihre Nähe zu lassen. Wie konnten andere Frauen die Gegenwart dieser Widerlinge nur ertragen? Mit einem irritierten Kopfschütteln vertrieb sie die unangenehmen Gedanken und hob die Nase, um die betörenden Düfte des Sommers einzuatmen: das frisch geschnittene Gras, das in großen Haufen auf dem Turnierplatz lag; den schweren Dunggeruch aus den nahe gelegenen Stallungen; und den würzigen Duft des Harzes, das in dicken, zähflüssigen Bächen an den gefällten Baumstämmen entlangrann. »Lasst uns an etwas anderes denken«, schlug Berengaria nach kurzem Schweigen vor und erhob sich, um mit ihrer jungen Begleiterin in die Kühle eines der vielen Kreuzgänge einzutauchen. »Was haltet Ihr von dem neuen Stoff aus Spanien?«, fragte die englische Königin, die einen leuchtend roten Gürtel aus kostbarer Seide trug, nach einer Weile. Bewundernd nahm Jeanne das ihr entgegengehaltene Ende der Schärpe zwischen die Finger und rieb leicht über das sich stumpf anfühlende Gewebe. »Er hat eine unglaubliche Leuchtkraft«, stellte sie neidlos fest und ließ den Blick an ihrem eigenen, weit weniger farbenprächtigen Leinengewand entlangwandern. »Wie wäre es, wenn wir Euch ein Übergewand daraus anfertigen ließen?«, fragte Berengaria mit einem Lächeln auf den Lippen. »Es würde wunderbar zu Eurem Haar passen.« Errötend ließ die junge Frau das Ende in ihren Händen fahren und schüttelte ungläubig den Kopf. »Das wird Euch die Zeit verkürzen«, stellte Berengaria nüchtern fest, verlagerte das Gewicht ihres Sohnes von der rechten auf die linke Hüfte und steuerte auf das efeuumrankte Tor zu, um einen der vielen, von hohen Hecken umgebenen Lustgärten zu betreten.
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Sehnsüchtig folgten Rolands Augen der schlanken Frauengestalt, die mit atemberaubender Grazie – in ein Gespräch mit Berengaria von Navarra vertieft – einen der vielen Kreuzgänge entlangwandelte. Seit der Ankunft der Damen in Rouen hatte er sie erst zweimal gesehen, doch diese beiden kurzen Momente hatten genügt, um ihm den Verstand zu rauben. Wie unglaublich schön sie war! Viel schöner als die Miniatur, die ihn vor über einem Jahr in der Festung ihres Gemahls in Tours vor Ehrfurcht hatte erstarren lassen. Ihr kastanienfarbenes Haar leuchtete im gleißenden Licht der Sonne wie gesponnenes Kupfer, und der Schwung ihrer schlanken Hüften hatte eine beinahe verzaubernde Wirkung auf ihn. Immer wenn sie lachte, hob sie eine der Hände an den Mund, in dem zwei perlenweiße Zahnreihen aufblitzten. Ihre Gestalt wurde von einem fließenden blau-grünen Bliaud unterstrichen, das in Rolands Augen die Ältere neben ihr – trotz deren feinerer Kleidung – einfach und unscheinbar wirken ließ. Ihre Augen blitzten unter dem durchsichtigen Schleier hervor, der ihre glänzenden, sich widerspenstig kräuselnden Locken nur notdürftig zähmte. Ein heißer Stich fuhr ihm in den Unterleib, als sie sich halb umwandte und er einen Blick auf ihren prall geschnürten Busen erhaschte. Ob er wohl jemals das Glück haben würde, das Wort an diese Göttin richten zu dürfen?
Bevor er den Gedanken vertiefen konnte, drang die Unheil verkündende Stimme von Richard Löwenherz an sein Ohr. »Werden wir diese Heiden denn niemals los?!«, donnerte der erzürnte englische König, dessen Laune seit der feigen Zerstörung Vaudreuils selten den Gefrierpunkt überschritt. Nur mit Mühe und Not waren er und der welfische Prinz Otto einer Katastrophe entkommen. Und obschon er alles in seiner Macht Stehende unternommen hatte, um des wortbrüchigen Philipps von Frankreich habhaft zu werden, war dieser ihm ein weiteres Mal entkommen. »Sie kamen aus Marokko«, informierte ihn William Marshal, der Mühe hatte, mit dem zornigen Hünen Schritt zu halten. Roland, der keine Lust verspürte, seinem Halbbruder in dieser Stimmung zu begegnen, duckte sich gerade noch rechtzeitig hinter eine der Säulen. In Stiefeln und Brustpanzer stürmten die beiden Männer – von den Stallungen kommend – durch den gepflasterten Innenhof auf die schwer bewachte Hauptpforte der Halle zu. »Sie sind bereits bis nach Zentralspanien
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