Im Reich der Löwin
vorgedrungen«, fügte der schwer atmende William Marshal hinzu. Doch alles Weitere wurde vom Getrappel der soeben in den Hof einreitenden Pferde verschluckt. Als sie den Wohntrakt erreicht hatten, verschwanden Richards rotblonder Schopf und die vor Schweiß glänzende Glatze des alten Ritters im Eingang und Roland atmete erleichtert aus. Instinktiv hatte er den Atem angehalten, um nicht entdeckt zu werden. Was den König wohl so erzürnt hatte?, fragte sich der Knabe, der sich keinen Reim auf die rätselhaften Worte machen konnte. Aber wenig später schweiften seine Gedanken bereits wieder ab. Noch immer hatte sich das Rätsel um Humphreys Verschwinden nicht geklärt. Und jedes Mal, wenn Rolands Blick auf William Marshal fiel, zermarterte er sich erneut das Gehirn, was dem Sohn des Earls of Pembroke wohl zugestoßen sein mochte. Fast sicher, dass Richard Näheres darüber wusste, hatte er ihn mehr als einmal mit Fragen zu Humphreys Verbleib bedrängt. Doch beim letzten Mal hatte dieser ihm eine ernsthafte Lektion versprochen, wenn er das Thema nicht endlich auf sich beruhen ließ. Mit einem Schulterzucken trat er aus seinem Versteck hervor und eilte auf leisen Sohlen den Kreuzgang entlang. Aber die Damen, deren Aufmerksamkeit er zu erhaschen gehofft hatte, waren – anstatt ihren Weg in den Garten fortzusetzen – ebenfalls ins Innere des kühlen Wohnhauses verschwunden.
****
Zwei Stockwerke über dem Knaben trat John Lackland, der die Schritte der Frauen ebenfalls verfolgt hatte, mit mürrischer Miene von dem mannshohen Fenster zurück. »Was hat sie sich nur dabei gedacht?«, knurrte er mit einem wütenden Blick auf Richard of Devizes, der neben den Diensten als Chronist auch noch die Rolle des Hofschreibers für Lackland erfüllte. »Wie kann sie zulassen, dass diese Hure hier hocherhobenen Hauptes auf und ab stolziert?!« Sein Mund verzog sich bei dem Gedanken an Aliénor von Aquitanien und den Skandal, den die Anwesenheit ihrer ehebrüchigen Schwiegertochter darstellte, zu einer hässlichen Grimasse. Da Devizes jedoch stumm blieb, vertrieb er den Ärger mit einem Brummen und nahm das unterbrochene Diktat wieder auf. »Weiter!«, befahl er dem sichtlich unberührten Schreiber:
»Ihr habt freie Hand. Versprecht ihnen, wenn nötig, Vergünstigungen oder Regierungsämter, aber zieht sie auf Eure Seite.«
»Das genügt«, setzte er nach kurzem Nachdenken hinzu. »Keine Unterschrift, kein Siegel.« Für den Bruchteil einer Sekunde erhellte ein beinahe heiteres Lächeln das Gesicht des Prinzen. »Wir wollen doch nicht, dass irgendjemand die richtigen Schlüsse zieht.« Damit war die Angelegenheit für ihn erledigt, und er überließ es Devizes, die Botschaft an Guillaume of Huntingdon fertigzustellen. Dieser war ihm immer noch treu ergeben – und dies obwohl Lackland ihn einfach hatte fallen lassen, als es für ihn selbst brenzlig wurde. Wenn alles so lief, wie er es plante, dann würde der Bursche noch äußerst nützlich werden! Ein wenig Unzufriedenheit hier, ein wenig fehlgeleiteter Patriotismus dort, und der schönste Aufstand würde das von Hubert Walter geführte England erschüttern. So würde seiner Mutter keine andere Wahl bleiben, als ihn – John Lackland – auf die Insel zu schicken, um dort nach dem Rechten zu sehen. Und da Richard Löwenherz mit Sicherheit noch eine ganze Weile in Frankreich beschäftigt sein würde, wäre es ein Leichtes, die Macht in London an sich zu reißen. Mit einem leisen Lachen zog er die Tür hinter sich zu und eilte den Gang entlang, um das schon lange überfällige Gespräch mit seinem Bruder und seiner Mutter zu führen. Es gab für alles Grenzen. Die Anwesenheit Berengarias und vor allem die des jungen Ottos hatten mehr als nur eine Regel des guten Geschmacks verletzt. Auf keinen Fall würde er zulassen, dass sein Neffe ihm den Anspruch auf die Thronfolge streitig machen würde!
England, ein Stadthaus in London, August 1195
»Niemand darf je etwas von meiner Anwesenheit hier erfahren!« Die Miene des jungen Mannes, der darum gebeten hatte, zu William FitzOsbern vorgelassen zu werden, war ernst und angespannt. »Ihr habt mich niemals gesehen.« Die Verwirrung des Händlers war im Laufe des Gespräches allmählich der Ungläubigkeit und später der Zufriedenheit gewichen, als der untersetzte Junker ihm die Unterstützung John Lacklands zugesagt und eine nicht unbeträchtliche Summe Gold zwischen sich und FitzOsbern auf den dunklen Eichentisch hatte
Weitere Kostenlose Bücher