Im Reich der Löwin
Keine vierundzwanzig Stunden später war der Tross, mitsamt Richards Mutter, Aliénor von Aquitanien, und Harolds Gemahlin nach Leicester aufgebrochen. Von dort aus würde sich die Streitmacht in wenigen Stunden auf den Weg nach Norden machen. Harolds knapp einjährige Zwillinge, die nach der Königinmutter benannte Aliénor und deren Bruder William, befanden sich in Obhut ihrer Amme. Der König selbst hatte die Nacht in einem geräumigen Gemach im Westflügel der mächtigen Festung verbracht, wo auch die rüstige alte Herzogin von Aquitanien Unterkunft gefunden hatte. »Manchmal erscheint es mir immer noch unwirklich, dass du Earl of Huntingdon und Leicester bist«, murmelte Catherine, während sie ihr Haar geschickt unter einem blendend weißen Gebende verstaute. Durch die Gebendenadel, die sie – um die Hände frei zu haben – zwischen die Lippen geklemmt hatte, klangen die Worte undeutlich. Dies veranlasste Harold dazu, mit einem Grinsen die Stirn zu runzeln und lauschend die Hand hinter eines seiner Ohren zu legen. »Wie bitte, Lady Catherine?«, flachste er, duckte sich jedoch rasch, als sie ihn mit der Decke bewarf, die inzwischen einer fein gewobenen Cotte und einem lapislazuliblauen Bliaud gewichen war. »Du bist ein Flegel«, schimpfte sie, schlang jedoch sofort darauf die Arme um ihn, in dem Wunsch, ihrem Gatten vor Verlassen der Schlafkammer einen letzten, leidenschaftlichen Kuss zu geben. Wie sehr sie ihn vermissen würde! Denn keinen Augenblick hatte sie sich seit der Rückkehr des Königs über die Tatsache hinwegtäuschen lassen, dass ein Feldzug gegen Philipp von Frankreich unmittelbar bevorstand.
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Während sich die jungen Liebenden dem scherzenden Geplänkel hingaben, ließ der Barde Blondel in einem der großzügigen Gemächer im ersten Stock der Ringburg mit einem beinahe seligen Lächeln auf den Lippen die Laute sinken. Voller Leidenschaft blickte er Richard Löwenherz, der zu seinen Füßen kniend dem Vortrag gefolgt war, in die Augen, die wie gebannt auf dem schlanken Sänger ruhten. »Das ist eines der wundervollsten Sirventes , das ich jemals gesungen habe«, lobte er den königlichen Dichter des Rügeliedes, welches die schleppende Beschaffung des Lösegeldes für den gefangenen Löwen zum Thema hatte. »Besonders diese Strophe gefällt mir.« Behutsam zupften die langen Finger an den Saiten des perfekt gestimmten Instrumentes, ehe erneut der helle Tenor erklang:
»Sie wissen es sehr wohl, die Männer von Anjou und aus der Touraine, die Edelleute, die jetzt in Ruhe und Wohlstand leben, dass ich fern von ihnen bin – als Gefangener und in den Händen einer fremden Macht. Sie könnten mir helfen, doch sie sehen keinen Vorteil darin. Sie strotzen vor Waffen, und ich bin hier gefangen.«
Die süß-schwermütige Melodie des Stückes, die wie zähflüssiger Honig über ihm zusammenschwappte, rief dem knienden Richard erneut die Verbitterung und das Heimweh in Erinnerung, die ihm auf den Burgen Dürnstein und Trifels beinahe den Verstand geraubt hatten. Blicklos starrte er durch das kleine, kostbar verglaste Fenster im Rücken seines Liebhabers in die hereinbrechende Dämmerung hinaus, wo die feurigen Finger Auroras der Landschaft das Grau stahlen und ihr die Farben zurückgaben. Halb wahnsinnig hatte ihn die Untätigkeit Papst Colestins III. gemacht, der dem Verbrechen, einen unantastbaren Kreuzfahrer zu inhaftieren, tatenlos zugesehen hatte. Als sich die Bilder seines Gefängnisses zurück in sein Bewusstsein drängten, legte sich die kalte Hand der Ohnmacht erneut mit solcher Kraft um sein Herz, dass er unbewusst den rotblonden Schopf schüttelte, um sie loszuwerden. Mit abgrundtiefem Hass hatte ihn der Verrat seines treulosen Bruders erfüllt, der dem Erzfeind der Plantagenets – Philipp von Frankreich – weitreichende Gebiete in der Normandie sowie Gisors, die normannische Schlüsselfestung von Vexin, abgetreten hatte. Grimmig biss Löwenherz die Zähne aufeinander, als er sich ausmalte, wie er John dafür bezahlen lassen würde. Durch seine Intrigen und Ränkespiele hatte dieser indirekt dazu beigetragen, dass Richard die größte Demütigung seines Lebens über sich hatte ergehen lassen müssen – den erzwungenen Lehenseid gegenüber Kaiser Heinrich VI., der den englischen König zu einem Vasallen der deutschen Krone degradiert hatte!
Trotz der beruhigenden Anwesenheit seines treuen Liebhabers Blondel und dessen Bemühungen spürte er, wie erneut lodernder Zorn
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