Im Reich der Löwin
heraus: »Ihr seid ein Weinfass, Arnauld!« Den verletzten Blick des anderen ignorierend, setzte er hinzu: »Ein begnadeter General, aber ein Weinfass!« Brüllend vor Lachen wandte er seinem Vasall den Rücken und verschwand durch die Tür.
Die Normandie, Rouen, Ende September 1195
Eine bleiche Sonne hing über der nordfranzösischen Hafenstadt Rouen, durch deren Straßen und Gassen ein unangenehm schneidender Wind pfiff. Von der offenen See geflohen, umtanzten Möwen die Masten der im Hafen vor Anker liegenden Handels- und Kriegsschiffe, welche die Normandie mit Nahrungsmitteln und frischen Truppenverbänden aus England versorgten. Während in der Stadt selbst die Besucher und Einwohner emsig ihren Geschäften nachgingen, wirkte das festungsähnliche Steinhaus, in dem John Lackland für gewöhnlich Hof hielt, verwaist und abweisend. Lediglich die gelegentlich aufblitzenden Helme der Wachsoldaten verrieten, dass hinter den schiefergrauen Steinquadern Leben herrschte. Hätte nicht das rot-gelbe Banner des englischen Königs dessen Anwesenheit verkündet, hätte manch Ansässiger nicht einmal den Blick zu dem Bollwerk gehoben. Aufgrund der immer kühler werdenden Nächte und des zunehmenden Gestankes nach totem Fisch waren die Fenster bereits mit schweren Läden verschlossen, was den verlassenen Eindruck verstärkte.
»Harold!« Catherines Stimme erstarb, als sie sich im zweiten Stock des Palastes in die Arme ihres Gemahls warf und hemmungslos anfing, zu weinen. Vor Erschöpfung zitterte sie wie Espenlaub und hätte ihr Gemahl sie nicht an sich gezogen, dann wäre sie vor Schwäche, Erleichterung und Freude zu Boden gesunken. Verdattert drückte Harold sie an sich und wartete, bis sich die Schleusen wieder schlossen. Dann schob er sie auf eine dick gepolsterte Sitztruhe zu und ließ sich neben ihr nieder. Leise Liebkosungen murmelnd küsste er ihre Stirn, strich mit der Rechten zärtlich über ihre tränennasse Wange und hob vorsichtig ihr Kinn. In den vom Weinen geröteten Augen lag ein Ausdruck, den er nicht zu deuten vermochte. Als sich eine Träne löste und an ihrer Nase vorbei ihr Kinn hinabrann, brach es ihm beinahe das Herz. Was um alles in der Welt mochte sie dazu bewogen haben, ihm auf das von den Kriegswirren gebeutelte Festland zu folgen? Durch Zufall hatte die kleine Gruppe, die sich bereits auf dem Weg in das weiter südwestlich gelegene Lisieux befunden hatte, davon erfahren, dass Löwenherz in Rouen weilte und augenblicklich den Kurs geändert.
»Mein Gott, Catherine«, flüsterte er. Noch immer konnte er es nicht fassen, dass es wirklich seine Gemahlin war, die vor wenigen Minuten von einem Knappen zu ihm geführt worden war. »Was ist geschehen?« Eine eilig herbeigerufene Magd hatte die vor Hunger und Durst brüllenden Zwillinge in die Küche gebracht, um sie mit warmer Milch und gesüßtem Haferbrei zu füttern, und so waren die beiden Eheleute allein in der Kammer. »Guillaume«, presste Catherine zwischen erneuten Weinkrämpfen hervor. Und erst als Harold ihr nach über zehn Minuten die nassen Strähnen aus dem verschwollenen Gesicht strich, erlangte sie die Fassung wieder und berichtete in abgehackten Sätzen, was in England vorgefallen war. »Dieser Hundsfott!«, knurrte Harold und ballte die Fäuste, während sein Brustkorb sich heftig hob und senkte. »Dafür werde ich ihn eigenhändig töten!« In seinen Augen glomm Hass, als er sich ausmalte, welche Qualen er seinem Bruder zufügen würde. »Also ist es wahr, dass er auch Vater in den Tod getrieben hat«, murmelte er, presste die Kiefer aufeinander und starrte einige Minuten lang an Catherine vorbei in den kleinen Garten des Stadthauses. Doch als er die kalte Hand seiner Gemahlin auf der seinen spürte, kehrte sein Blick zu ihr zurück. Die bedingungslose Liebe, die er in diesem Moment für sie empfand, schnürte ihm beinahe die Luft ab. Kälte kroch in sein Herz, als ihm klar wurde, dass er sie durch sein eigenes Verschulden hätte verlieren können. Ein überwältigendes Schuldgefühl gesellte sich zu seiner Furcht.
»Wie konnte ich dir nur so unrecht tun?«, presste er erstickt hervor und drückte einen trockenen Kuss auf die Knöchel ihrer Hand, die ein weißes Tüchlein knetete. »All die Zeit hast du versucht, unsere Kinder vor dem Ungeheuer zu bewahren, das ich dir ins Haus geschickt habe, und ich Narr …« Seine Stimme erstarb. »Was?«, fragte Catherine, die sich inzwischen ein wenig gefangen hatte. »Was, Harold?« Mit
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