Im Reich der Löwin
Kinnbart. »Verdammt!«, fluchte er heiser und wandte den Blick auf seinen Berater und Vertrauten. »Er hat beinahe alle Gebiete, die wir mühsam erobert hatten, zurückgewonnen«, grollte er. Die soeben von ihm unterzeichneten Waffenstillstandsbedingungen, die im Januar in Louviers nahe Les Andelys festgeschrieben werden sollten, fixierten die bestehenden Machtverhältnisse. Und außer dem normannischen Vexin und der Festung Gisors besaß Philipp nichts mehr, was ihm nicht schon vor der Gefangennahme Richards durch den österreichischen Herzog Leopold gehört hatte. »Selbst die Geiseln müssen wir ausliefern!« Während sich sein Brustkorb heftig hob und senkte, ließ er sich erneut in den quietschend unter ihm nachgebenden Stuhl fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. »Wenn die Glückssträhne dieses Mistkerls anhält, dann sehe ich schwarz für Frankreich!«
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Während sich der französische König der Trübsal hingab, tobte im Inneren der Festung von Issoudun ein Fest von bacchantischen Ausmaßen. Die Bewohner der Dörfer in der Nähe der Stadt waren kurzerhand gezwungen worden, ihre Vorräte preiszugeben, und so flossen Met, Wein und Bier in Strömen. Überall drängten sich Soldaten und Ritter in dunklen Ecken, wo sie sich im Schutz der langen Röcke der Bauernmägde und Kaufmannstöchter den Liebesfreuden hingaben, bevor sie sich siegestrunken und glückstaumelnd unter die anderen Feiernden mischten. Diese taten sich an frisch geschossenem Wild, knusprigem Schweinebraten und einem mächtigen, am Spieß drehenden Ochsen gütlich. Zufrieden an einer zarten Rehkeule knabbernd betrachtete Roland Plantagenet das Treiben vom oberen Wehrgang aus, auf dessen zerschossene Zinnen er sich mit seinem Bruder Henry zurückgezogen hatte, um in aller Ruhe das Ende der Kampfhandlungen zu genießen. »Ich hätte nicht gedacht, dass wir so lange aushalten«, nuschelte Henry zwischen zwei Bissen. »Es gab Momente …« Er ließ den Satz unvollendet, da er sich ein viel zu großes Stück Brot zwischen die Zähne geschoben hatte. »Ja«, stimmte Roland zu und wischte sich den Mund, nachdem er den abgenagten Knochen Richtung Burggraben geschleudert hatte. »Als er die Kapitulationsbedingungen aufgesetzt hat, dachte ich, er habe den Verstand verloren«, gestand er mit einem Feixen. Nachdem Henry geschluckt hatte, stieß er den Bruder neckend in die Seite und zog die Mundwinkel nach oben. »Da wir Weihnachten in Poitiers verbringen werden, bist du doch sicherlich schon aufgeregt.« Seine Augen funkelten verschmitzt. »Wer weiß, vielleicht erhört sie dich ja.« Mit einem Lachen wehrte er den scherzhaften Schlag des Älteren ab.
Frankreich, Poitiers, 14. Dezember 1195
»Warum habt Ihr mich aus Rouen zurückbeordert?«, fragte John Lackland mit einem mürrischen Unterton. Seine Mutter, Aliénor von Aquitanien, thronte in einem seidenbezogenen Prunksessel in ihren Privatgemächern im ersten Stock der Grafenburg von Poitiers. Während die gichtverknoteten Hände und die gebeugte Haltung ihr das Aussehen einer alten Frau verliehen, strafte der Blick der klaren, dunkelgrauen Augen diesen Eindruck Lügen. Ihr dichtes lockiges Haar wurde von einem eleganten Seidenschleier zusammengehalten, dessen leuchtendes Grün mit der Farbe ihres weit geschnittenen Übergewandes korrespondierte. Das dicke Fell zu ihren Füßen, in dem die zierlichen, perlenbestickten Schuhe bis beinahe zum Knöchel versanken, verriet, dass sie immer noch die Angewohnheit besaß, sich im Winter vor der Kälte des Steinbodens zu schützen. »Richard wird in wenigen Tagen hier eintreffen«, erwiderte die alte Dame ungerührt. »Und es wird einige Dinge zu klären geben.« Bevor er sich beherrschen konnte, verzog sich Johns Mund fragend, während seine Augen sich kaum merklich verengten. »Was meint Ihr damit?«, fragte er, nur mühsam die in ihm aufsteigende Aggression unterdrückend. Er wusste genau, was sie damit meinte! Wenn die Gerüchte stimmten, die seinem übermächtigen Bruder vorauseilten, dann hatte dieser vor, die Weihnachtsfeierlichkeiten zu nutzen, um einige Staatsangelegenheiten zu regeln, von denen John befürchtete, dass sie seinen stetig schwindenden Einfluss noch weiter beschneiden könnten.
Ausgerechnet jetzt, wo in London die Zeichen auf Erfolg standen!, grollte er innerlich, bemühte sich jedoch, seiner Mutter mit keiner Regung zu verraten, was in ihm vorging. Erst vor wenigen Tagen hatte ihn Nachricht von Guillaume of
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