Im Reich der Löwin
Huntingdon erreicht, dem es nicht nur gelungen war, die Aufständischen so weit anzustacheln, dass ein blutiger Aufstand unmittelbar bevorstand; sondern der Lackland mit dem von ihm ausfindig gemachten Passus zudem noch eine Karte von unschätzbarem Wert in die Hände gespielt hatte. Sorgfältig in sauberer Handschrift kopiert, hatte ihn der Gesetzestext innerlich aufjubeln lassen, da es von dieser Basis ausgehend möglich sein würde, die Bischöfe auf der Insel gegen Richard Löwenherz aufzuhetzen. Und wenn der Klerus erst einmal seine Stimme gegen den König erhob, dann würde diesem – aus Furcht, dieselbe Demütigung auf sich nehmen zu müssen wie sein Vater – keine andere Wahl bleiben, als seinem jüngeren Bruder die Verwaltung Englands zu übertragen. Denn wenn die Hauptstadt des Landes lichterloh in Flammen stand, würde auch ihm klar werden, dass der von ihm als Verwalter des Landes eingesetzte Hubert Walter gescheitert war! Mit einem kalten Leuchten in den Augen wandte er sich nach einer tiefen Verneigung von seiner Mutter ab und zog leise die schwere Tür hinter sich ins Schloss. Der verwaist daliegende Korridor roch feucht und muffig. Und als er die altersdunkle Holztreppe erreichte, die ins Erdgeschoss hinabführte, flackerten die Pechfackeln im Luftzug. Nicht mehr lange und der alte Drachen würde sein Urteil über ihn revidieren müssen!
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So vertieft war er in seine Gedanken, dass er das Augenpaar nicht bemerkte, das aus dem Schatten eines dicken Stützbalkens jeder seiner Bewegungen folgte. Mit angespannt aufeinandergepressten Lippen beobachtete Jeanne de Maine, wie der Bruder des Königs durch die Tür verschwand, die in den schneebedeckten Innenhof führte, wo er sich nach Osten wandte, um in Richtung Stallungen davonzueilen. Obwohl sie es nicht festmachen konnte, jagte ihr irgendetwas an dem Prinzen Furcht und Unbehagen ein. Seit seiner Ankunft am Hof in Poitiers hatte sich die Stimmung in der Grafenburg verändert – wenn auch kaum merklich. Hätte Jeanne die misstrauischen Blicke der zum Schutz der Damen abgestellten Ritter nicht aufgefangen, hätte sie sich wohl eine überempfindliche Närrin gescholten. Doch auch diesen schien der junge Mann ein Dorn im Auge zu sein, da sie – kaum war Lackland in einem der Stallgebäude verschwunden – die Köpfe zusammensteckten und mit mürrischen Blicken klarmachten, was die junge Frau aufgrund der Entfernung nicht zu hören vermochte. Wenn doch nur Richards siegreiche Truppen endlich einträfen! Bei dem Gedanken daran verpuffte die Sorge um den aalglatten Bruder des Königs auf beinahe magische Weise und wurde verdrängt durch Vorfreude auf ein Wiedersehen mit Roland Plantagenet. Mit einem sehnsüchtigen Seufzer rückte die junge Frau ihr Seidenschapel zurecht. Dann trat sie in die Mitte des Ganges, um ihren Weg in die Halle fortzusetzen, der durch das Auftauchen John Lacklands unterbrochen worden war.
Frankreich, Abbeville in Ponthieu, 14. Dezember 1195
Schwere Schneeflocken tauchten die Landschaft vor den Fenstern des nordfranzösischen Grafensitzes in ein Gewand aus wirbelndem Weiß, das Bäume, Büsche und Gebäude unter sich zu begraben schien. Obwohl es noch früher Nachmittag war, senkte sich bereits die winterliche Finsternis über die Hauptstadt der Grafschaft Ponthieu, deren Nähe zu Flandern ihr in den letzten Jahren zu blühendem Reichtum verholfen hatte. Durch den Handel mit dem angrenzenden Gebiet hatte sich die Lage des vormals unbedeutenden Flecken im Norden Frankreichs sowohl finanziell als auch militärisch so weit verbessert, dass die Unzufriedenheit über den erzwungenen Lehenseid gegenüber Richard Löwenherz inzwischen von einem Schwelzustand in offenes Feuer umgeschlagen war. »Diese Einladung anzunehmen, käme einer Unterwerfung gleich!«, tobte der vor Zorn dunkelrot angelaufene Wilhelm von Ponthieu, während er in der Halle seiner Burg in Abbeville auf und ab stapfte. Die ansonsten so knabenhaften Züge des sechzehnjährigen Grafen waren verzerrt, und die Hände des hochgewachsenen Jünglings ballten sich an seiner Seite zu Fäusten. Das noch bartlose Kinn kampfeslustig vorgestreckt, starrte er auf seine achtzehn Jahre ältere Gemahlin – Alys von Frankreich – hinab, die ungerührt mit ihrer Stickarbeit fortfuhr. »Du solltest dich nicht so aufregen«, riet sie, nachdem sie die Nadel durch den Schnabel eines Vogels gezogen hatte. Mit geschickten Handgriffen durchtrennte sie den Faden und erhob sich, um
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