Im Reich der Löwin
ihrem Gemahl die Hände auf die Schultern zu legen. Trotz seiner Jugend war Wilhelm bereits ein gefürchteter Feldherr. Hätte sein Lehnsherr Richard Löwenherz ihn nach der Belagerung von Dieppe nicht mit dem Einmarsch in sein Gebiet zur Vernunft gebracht, hätte der seinem Schwager Philipp von Frankreich ergebene Graf weiter für Unruhe gesorgt. »Ich kann ihn nicht ausstehen!«, knurrte er, ließ sich jedoch von Alys auf eine Bank drücken, auf der auch sie Platz nahm. »Ich weiß«, stellte sie nüchtern fest. Wenngleich ihre Ehe mit Wilhelm einzig als politischer Schachzug gedacht gewesen war, hatte Alys ihr Herz an den feurigen Grafen verloren. »Ich bin Franzose«, brummte er. »Und kein Engländer!«
Geduldig fuhr Alys ihm durch den dunklen Schopf, den er aus Angewohnheit im Innern seiner Festung niemals bedeckte. »Mein Bruder ist kein Deut besser als Richard«, versetzte sie versonnen, und als er ihr den Blick zuwandte, drohte das Herz, ihr die Brust zu sprengen. Als Kuhhandel geplant, hatten weder Richard noch Philipp damit rechnen können, dass das so ungleiche Paar seine Liebe füreinander entdecken würde. Doch schon kurz nach ihrer Ankunft in Ponthieu hatte Alys das von Wilhelm ehrenhaft unterbreitete Angebot, nur nominell als seine Gemahlin zu fungieren, zurückgewiesen und sich der Leidenschaft und dem Ungestüm des experimentierfreudigen jungen Mannes hingegeben. Noch immer gab es Augenblicke, in denen sie sich beide beherrschen mussten, vor den Augen der Bediensteten das Dekorum und die Etikette zu wahren. Aber an diesem stürmischen Nachmittag waren sie allein in dem für gewöhnlich übervölkerten Raum. Zärtlich drückte sie seinen Kopf an ihre Wange und strich über das weiche Haar in seinem Nacken. »Du machst es dir nur schwerer, wenn du ihm zeigst, wie sehr dich diese Einladung ärgert«, stellte sie fest. »Warum gibst du nicht einfach vor, geehrt zu sein?«, fragte sie sanft. »Dann nimmst du ihm allen Wind aus den Segeln.« Einen Augenblick lang genoss Wilhelm die Liebkosungen seiner Gemahlin schweigend, bevor er sich mit einem Seufzer von ihr losmachte und ihr in die Augen blickte. »Du hast recht«, gestand er widerstrebend ein. »Wenn ich mich ärgere, stärkt das nur seine Macht über mich.« Er erhob sich und half Alys mit einer galanten Geste auf die Beine. Trotz der Tatsache, dass sie mehr als doppelt so alt war wie er, wirkte das Paar selbst aus der Nähe harmonisch.
»Und du freust dich sicherlich darauf, deine beiden Söhne wiederzusehen.« Alys lächelte. Zwar war ihr jüngster Sohn, der zehnjährige Philipp Plantagenet, mit ihr nach Frankreich gereist. Doch sehnte sie sich danach, Roland und Henry endlich wieder in die Arme zu schließen. Auch wenn es ein wenig seltsam anmutete, dass Roland vier Monate älter war als ihr Gemahl! Sie nickte wehmütig. »Dann werden wir in zwei Tagen aufbrechen«, verkündete Wilhelm mit neu gewecktem Kampfgeist. »Immerhin ist er mein Lehnsherr.« Ein listiges Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. »Warum sollte ich mich dann nicht auf seine Kosten amüsieren?« Mit einem leisen Lachen presste er seine Gemahlin an die Brust und vergrub das Kinn in ihrem Haar. »Sicherlich sind die Betten in Poitiers weich und breit.« Er erstickte das Lachen, das in Alys aufstieg mit einem leidenschaftlichen Kuss, der ihre Wangen mit einem glühenden Rot der Vorfreude überzog.
In der Nähe von Poitiers, 14. Dezember 1195
Zur selben Zeit, als Alys und Wilhelm sich mit dem Gedanken an ein Weihnachtsbankett am Hof von Poitiers anfreundeten, befand sich Harold of Leicester inmitten eines riesigen Heeres bereits auf dem Weg dorthin. Frierend schlang er den Mantel enger um die Schultern, um sich vor dem schneidenden Wind zu schützen. Nur an wenigen Stellen blitzte das Blau des Himmels durch die drohenden, grau-gelben Wolken, die sich von Nordosten her immer mehr zusammenballten. Die blasse Sonne war kaum stark genug, den eisigen Vormittag zu erhellen, und schon bald begann es, leicht zu schneien. Feucht und unnachgiebig kroch die Kälte durch die Falten seiner viel zu dünnen Gewänder. Während er bemüht war, die steifen Finger durch Aneinanderreiben der Handflächen zu durchbluten, beobachtete er, wie sein Knappe den Sattel auf den Rücken seiner Stute hievte. Nach einer kurzen, aber im Vergleich zu den vergangenen Nächten erholsamen Rast in einem alten Benediktinerkloster stand der Aufbruch kurz bevor. Und wenngleich Harold sich am liebsten noch
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