Im Reich des Vampirs
Dunkelheit.
Die alte Frau saà an einem antiken Schreibtisch, aber heute sah sie lange nicht so alt aus. Bei unseren beiden bisherigen Begegnungen war sie grau gekleidet gewesen. Heute trug sie ein türkisfarbenes klassisches Kostüm und eine weiÃe Bluse â das machte sie zwanzig Jahre jünger und rückte sie näher an die sechzig als an die achtzig. Das silberne Haar war zu einem Zopf geflochten und um den Kopf festgesteckt wie eine Krone. Perlen schimmerten an ihren Ohrläppchen, am Hals und an den Handgelenken â sie hatten dieselbe Farbe wie ihr Haar. Sie wirkte elegant, kompetent und, obwohl sie eher klein war, sehr entschieden und energisch. Ich vermutete, dass sie sich in der Ãffentlichkeit absichtlich als ärmliche Greisin präsentierte; die Menschen sahen über ungepflegte alte Leute hinweg, als wollten sie nicht wahrhaben, dass sie selbst mit jedem Ticken der Uhr diesem Status näher kamen.
Eine an einer Perlenkette befestigte Brille ruhte auf ihrer Brust. Jetzt setzte sie sie auf die schmale, spitze Nase. Die Gläser vergröÃerten ihre leuchtend blauen, wachsamenAugen. »MacKayla. Komm rein. Nimm Platz«, befahl sie streng.
Ich nickte knapp und machte die Tür zu. Dann sah ich mich um und überlegte, wo das Schwert sein könnte. Etwas Feenartiges war hier. »Rowena«, grüÃte ich sie.
Ihre Augen flackerten, und mir war sofort klar, dass sie diese familiäre Anrede nicht schätzte. Gut. Ich beabsichtigte, von vornherein festzulegen, dass wir uns auf Augenhöhe, nicht als Mentorin und Schülerin gegenübertraten. Sie hatte die Gelegenheit, meine Mentorin zu sein, vertan, als sie mir den Rücken gekehrt hatte. Wir musterten uns wortlos. Das Schweigen zog sich in die Länge. Dies war der erste Kampf der Willenskraft und es sollte nicht der letzte sein.
»Setz dich«, sagte sie noch einmal und deutete auf den Stuhl vor dem Schreibtisch.
Ich gehorchte nicht.
»Och, um Marias Liebe willen, machâs dir bequem, Mädchen«, blaffte sie. »Wir hier sind eine groÃe Familie.«
»Tatsächlich?« Ich lehnte mich an die Tür und verschränkte die Arme. »Da, wo ich herkomme, lässt man ein Familienmitglied in Not nicht im Stich und Sie haben das zweimal mit mir gemacht. Warum haben Sie mir in dem Pub geraten, ich solle woanders hingehen, um zu sterben? Sie versammeln Sidhe -Seherinnen um sich. Warum haben Sie mich übergangen?«
Sie legte den Kopf in den Nacken und taxierte mich ausgiebig. »Es war ein schwieriger Tag. Ich hatte drei der Meinen verloren. Und da warst du kurz davor, dich und weià Gott wie viele andere sonst noch zu verraten, wenn dich niemand aufgehalten hätte.«
»Es muss offensichtlich gewesen sein, dass ich keine Ahnung hatte, was ich bin.«
»Offensichtlich war zuallererst, dass du von einem Feenwesen fasziniert warst. Ich hab dir ja gesagt, dass ich dich für eine Pri-ya hielt, für eine, die süchtig nach ihnen ist: Ich konnte nicht wissen, dass es das erste Feenwesen war, das du jemals zu Gesicht bekommen hast, oder dass du dir nicht bewusst warst, was du bist. Für eine Pri-ya kommt jede Hilfe zu spät. Ist eine Frau so weit, dann hat sie keinen eigenen Willen mehr und der Verstand ist praktisch ausgeschaltet. Ich werde niemals zehn opfern, um eine zu retten.«
»Hab ich jemals den Eindruck gemacht, als hätte ich den Verstand verloren?«, wollte ich wissen.
»Um ehrlich zu sein, ja«, erwiderte sie gleichmütig.
Ich dachte zurück an diesen ersten Abend in Dublin. Der Jetlag machte mir schwer zu schaffen, ich war voller Trauer, fühlte mich entsetzlich einsam und hatte gerade etwas gesehen, was eigentlich gar nicht sein konnte. Vielleicht war mein Gesichtsausdruck ein wenig  ⦠verdutzt oder verständnislos  ⦠Dennoch  ⦠»Und was war im Museum? Dort haben Sie mir auch nicht geholfen«, klagte ich sie an.
Sie verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. »Es schien, als wärst du mit dem Feenprinz im Bunde â und wieder dachte ich, du bist eine Pri-ya . Du hast dich für ihn ausgezogen. Welche Schlüsse sollte ich daraus ziehen? Erst als ich beobachtete, wie du ihn mit dem Speer bedroht hast, wurde mir einiges klar. Da wir gerade davon sprechen â ich muss diesen Speer sehen.« Sie erhob sich, ging um den Schreibtisch mit der Behändigkeit einer viel
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