Im Reich des Wolfes
im Osten war ein Latrinengraben ausgehoben, genau zehn Meter lang. Hundert Lager feuer brannten hell, und Wächter gingen am Rand des Lagers Patrouille.
»Ein methodisches Volk«, pulste die Stimme Kesa Khans. »Sie nennen sich zivilisiert, weil sie große Burgen bauen und ihre Zelte mit geometrischer Präzision aufschlagen können, aber von hier aus kannst du die Wirklichkeit sehen. Ameisen bauen genauso. Sind sie zivilisiert? Was meinst du?«
Miriel sagte nichts. Aus dieser großen Höhe konnte sie sowohl das kleine Lager der Nadir als auch die Macht der Gothirschen Angreifer sehen. Es war entmutigend. Kesa Khan lachte leise. »Laß dich nie von Verzweiflung übermannen, Miriel. Das ist immer die Waffe des Feindes. Schau sie dir an! Selbst von hier aus kannst du ihre Eitelkeit spüren.«
»Wie können wir sie besiegen?«
»Wie könnten wir es nicht?« entgegnete er. »Wir zählen nach Millionen, aber sie sind nur wenige. Wenn >der die Stämme eint< kommt, werden sie hinweggefegt wie Grassamen.«
»Ich meinte jetzt.«
»Ach, die Ungeduld der Jugend! Laß uns sehen, was es zu sehen gibt.«
Die Sterne wirbelten, und Miriel blickte auf ein kleines Lagerfeuer in der flachen Höhle eines Berghangs herab. Sie sah Waylander vor den Flammen kauern; ausgestreckt neben ihm lag der Hund Scar. Waylander wirkte müde, und sie erspürte seine Gedanken. Er war gejagt worden, doch er war den Verfolgern entkommen und hatte mehrere von ihnen getötet. Er hatte inzwischen das Gebiet der Sathuli hinter sich gelassen und dachte daran, in einer Gothirstadt, die etwa fünfzehn Kilometer weiter nördlich lag, ein Pferd zu stehlen.
»Ein starker Mann«, sagte Kesa Khan. »Der Drachenschatten.«
»Er ist erschöpft«, sagte Miriel und wünschte, sie könnte die Arme ausstrecken und den einsamen Mann am Lagerfeuer umarmen.
Die Szenerie veränderte sich und zeigte jetzt eine aus Stein gebaute Stadt in den Bergen und ein tiefes Verlies, in dem ein großer Mann an eine naßkalte Wand gekettet war. »Galen, du verräterischer Schuft«, sagte der Gefangene.
Ein großer, dünner Krieger im roten Umhang eines Drenai-Lan-zenreiters trat vor, packte den Gefangenen bei den Haaren und riß seinen Kopf zurück. »Genieß deine Beleidigung, du Hurensohn! Deine Tage sind gezählt, und grobe Worte sind alles, was du noch hast. Aber sie werden dir nicht helfen. Morgen reist du in Ketten nach Gulgothir.«
»Ich werde dich holen, du Bastard!« schwor der Gefangene. »Sie werden mich nicht festhalten!«
Der dünne Krieger lachte; dann ballte er die Faust und schlug dem hilflosen Mann dreimal ins Gesicht, so daß ihm die Lippe aufplatzte. Blut rann ihm übers Kinn, und sein eines, helles Auge richtete sich auf den rotgewandeten Soldaten. »Ich nehme an, du wirst Asten erzählen, wir wären verraten worden, aber es wäre dir gelungen zu entkommen?«
»Ja. Und dann, wenn die Zeit reif ist, bringe ich den Bauern um. Dann wird die Bruderschaft in Drenan herrschen. Wie gefällt dir das?«
»Das dürfte ein interessantes Gespräch werden. Ich wäre gern dabei, wenn du Asten erzählst, wie ich gefangen wurde.«
»Oh, ich werde es gut erzählen. Ich werde von deiner ungeheuren Tapferkeit sprechen und davon, wie du erschlagen wurdest. Es wird mir Tränen in die Augen treiben.«
»Du sollst in der Hölle verfaulen!« stieß der Gefangene hervor.
Miriel spürte die Nähe von Kesa Khan, und die Stimme des alten Schamanen wisperte in ihrem Geist. »Weißt du, wer das ist?«
»Nein.«
»Das ist Karnak, der Einäugige, der Reichsverweser der Drenai. Er wirkt jetzt nicht mehr so mächtig, angekettet in einem Sathuli-verlies. Kannst du seine Gefühle spüren?«
Miriel konzentrierte sich, und die warmen Wogen von Karnaks Zorn überschwemmten sie. »Ja. Ich kann es fühlen. Er stellt sich vor, wie sein Folterknecht von einem Soldaten mit roten Haaren getötet wird.«
»Ja. Aber du solltest noch etwas beachten, Mädchen. Karnak spürt keine Verzweiflung, oder? Nur Zorn und den brennenden Wunsch nach Rache. Er ist ungeheuer eingebildet, aber er besitzt auch gewaltige Kraft. Er fürchtet weder die Ketten noch seine Feinde. Er schmiedet bereits Pläne und nährt seine Hoffnungen. Einen solchen Mann darf man nie außer acht lassen.«
»Er ist ein Gefangener, unbewaffnet und hilflos. Was kann er schon tun?« fragte Miriel.
»Laß uns in die Berge zurückkehren. Ich werde allmählich müde. Morgen wird sich der wahre Feind zeigen. Wir müssen bereit sein, es mit
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