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Im Saal der Toten

Im Saal der Toten

Titel: Im Saal der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Fairstein
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das einige tausend Quadratmeter große, sanft hügelige Grundstück, das von einer hübschen Steinmauer eingefasst war. Die dicken, kahlen Baumstämme am Horizont wirkten wie Punkte in der Landschaft, die sich vor meinen Augen bis zu dem hellblauen, aufgewühlten Wasser des Quitsa-Teichs und den fernen Umrissen der Elizabeth-Inseln erstreckte.
    Hier hatte ich gestanden, als mir meine beste Freundin und meine Mutter vor über zehn Jahren die Nachricht von Adams tödlichem Unfall überbracht hatten. Ab jenem Augenblick hatte sich die Insel für mich für immer verändert, aber gleichzeitig war es mir umso wichtiger geworden, ihre einzigartige Schönheit und belebende Kraft zu genießen.
    Ich machte mich frisch, verstaute die Lebensmittel und half Mercer, die Holzscheite fürs Kaminfeuer zu stapeln. Um drei Uhr nachmittags kam Mike zurück.
    Ich wartete an der Eingangstür auf ihn.
    Mike ging mit zusammengepressten Lippen und ausdruckslosem Gesicht an mir vorbei. Er berührte meinen Unterarm und flüsterte »Danke«. Er war kreidebleich; nur auf seinen geröteten Wangen und Händen hatte der eiskalte Wind Spuren hinterlassen. Sein dichtes, schwarzes Haar war völlig zerzaust und ließ sich auch nicht mit den Fingern bändigen.
    Ich folgte ihm in die Küche, wo er zwei Coladosen aus dem Kühlschrank nahm und mir eine davon reichte.
    »Willst du reden?«
    »Eigentlich nicht«, sagte er. »Was können andere schon sagen, das ich hören will?«
    »Du weißt, wie gern ich sie –«
    »Ich weiß.«
    Er ließ mich stehen und ging ins Wohnzimmer. Ich ging ins Schlafzimmer und erledigte ein paar Telefonate – zuerst rief ich eine von Mikes Schwestern an, damit seine Familie Bescheid wusste, danach einige meiner Arbeitskollegen und Freunde, denen er im Laufe der Jahre ebenfalls ein geschätzter Freund geworden war.
    Dann holte ich ein Paar Handschuhe und zwei Yankees-Kappen aus dem Schrank und ging ins Wohnzimmer.
    »Mercer, würdest du dich bitte um das Feuer kümmern? Mike, ich fahre zum Black Point. Ich möchte, dass du mitkommst.«
    Er sah zu der hohen Decke mit den breiten Holzbalken hinauf. Alles, um mich nicht ansehen zu müssen.
    »Komm schon. Wir gehen spazieren.« Ich warf ihm eine Kappe in den Schoß.
    Er spielte mit der Mütze, dann setzte er sie auf und zog sie so tief in die Stirn, dass ich seine Augen nicht sehen konnte.
    »Ich fahre«, sagte er.
    »Geht nicht.« Den Privatstrand erreichte man nur über eine eineinhalb Kilometer lange unbefestigte Straße, die für normale Autos und Sportwagen unbefahrbar war. »Wir müssen meinen alten Jeep nehmen.«
    Wir fuhren mehrere Meilen auf der South Road – vorbei an Schaffarmen, einem Friedhof und Pferdeweiden –, bis wir zu der Abzweigung nach Black Point kamen. Mike lehnte mit dem Kopf am Fenster und nahm die Landschaft gar nicht wahr.
    Ich hätte die unmarkierte, gut versteckte Zufahrt im Schlaf gefunden. Hierher kam ich jedes Mal, wenn ich Trost suchte. Nach einigen Kilometern auf der einsamen, staubigen Straße kam man zu einem alten Gatter. Ich stieg aus, um es zu öffnen. Um die nächste Kurve wich das Gestrüpp einem weitläufigen Feuchtgebiet. Hohe braune Gräser wogten am Ufer des eisblauen Teiches vor den Dünen, die zur starken Brandung des Atlantik hin abfielen.
    Ich stieg aus, kletterte auf dem kürzesten Weg zum höchsten Punkt und setzte mich in den Sand. In beide Richtungen erstreckte sich, so weit das Auge reichte, kilometerlanger sauberer weißer Sandstrand. Die schaumgekrönten Wellen erinnerten mich daran, wie rau der Ozean sein konnte, und ihr wütendes Peitschen gegen die Küste schien Mikes Stimmung widerzuspiegeln.
    Um diese Tageszeit warf die Sonne lange Schatten. Als Mike ein paar Minuten später hinter mich trat, ragte sein Umriss noch weiter ins Meer hinaus als meiner – zwei lange schwarze Schatten an einem der schönsten Strände der Welt, allein mit ihrer Trauer.
    Ich war an Adams Todestag mit Nina hierher gekommen – um meiner Wut freien Lauf zu lassen und um an dem Ort zu sein, wo er immer Ruhe und Entspannung gefunden hatte. Kurz darauf hatte ich zusammen mit seiner Familie seine Asche an genau dieser Stelle ins Meer gestreut.
    Mike zog seine Schuhe und Socken aus und rollte die Hosenbeine seiner Jeans hoch. Das Wasser war eiskalt, aber ich wusste, dass er es nicht spürte. Er lief am Strand entlang, bis ich ihn nicht mehr sehen konnte, und kam nach einer halben Stunde mit roten, geschwollenen Augen zurück.
    Er blieb am Wasser

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