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Im Saal der Toten

Im Saal der Toten

Titel: Im Saal der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Fairstein
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stehen, das sich langsam ins Meer zurückzog, und sprach das erste Mal, seit wir das Haus verlassen hatten. »Sie hat nie Glück gehabt. Weißt du, was ich meine? Auf manchen Leuten lastet von Geburt an ein Fluch. Sie haben so viele Talente, aber über ihnen hängt immer eine dunkle Wolke. So jemand war Val.«
    »Vergiss nicht, wie glücklich sie im letzten Jahr mit dir war.« Ich zog meine Mokassins aus und ging zu ihm.
    »Glücklich? Weißt du, wie schwer es ihr manchmal fiel zu lächeln? Welcher Triumph es für sie war, über die Krankheit gesiegt zu haben? Du klingst wie ihr Vater. Als wäre ich nur ihr Hofnarr gewesen, dessen Aufgabe darin bestand, sie jeden Tag zum Lachen zu bringen.«
    »Vergleich mich nicht mit ihrem Vater! Sie hat mir gesagt, was du ihr bedeutet hast, und ich weiß, wie sehr sie sich gewünscht hat, dich zu heiraten.«
    »Ich wusste nicht, dass sie darüber gesprochen hat.« Mike schleuderte einen Stein ins Meer. »Wir waren tatsächlich kurz davor, ob du’s glaubst oder nicht.«
    »Val hat immer –«
    »Sag nichts. Ich will jetzt nicht über sie reden.«
    »Du musst über sie reden, Mike. Das ist das Einzige, das du noch für sie tun kannst. Über sie reden und jeden Tag an sie denken, von jetzt bis an dein Lebensende.«
    Er wandte sich ab und schwankte vor Erschöpfung den Strand entlang. »Das ist zu schwer. Das kann ich –«
    »Natürlich ist es schwer. Deshalb musst du dich dazu zwingen. Du musst mit Menschen wie Mercer und mir reden, mit Menschen, die wissen, was du ihr bedeutet hast.«
    »Ich denke an die Idioten, mit denen ich jeden Tag zu tun habe. Menschen, die morden und stehlen und andere zum Krüppel schlagen. Arschlöcher, die einem ohne mit der Wimper zu zucken das Hirn rauspusten. Scheißkerle, die ihre eigenen Mütter beklauen und vergewaltigen. Tierquäler, die einfach nur zum Spaß Katzen häuten und Hunde erschießen. Ist einer von denen jemals jung gestorben, Coop?« Mike schrie jetzt gegen das Rauschen der Brandung an. »Nein. Sie überleben jede Menschenseele, die jemals etwas Gutes getan hat. Sie sind genetisch nicht nur darauf programmiert, Böses zu tun, sondern auch noch bei bester Gesundheit hundertfünfzig Jahre alt zu werden.« Mike stand bis zu den Knöcheln im eiskalten Wasser und schleuderte wieder zwei, drei Steine in die Wellen. »Das frisst mich manchmal auf. All diese Arschlöcher, die es nicht verdient haben, am Leben zu sein, aber uns alle überleben werden. Und diese liebevolle, intelligente, starke Frau, in die ich mich verliebt habe, hatte verdammt noch mal von Anfang an keine Chance.«
    »Du kannst nicht –«
    »Komm mir jetzt bloß nicht mit ›das Leben ist nicht fair‹.« Er drehte um und kam wieder auf mich zu. »Weißt du, dass heutzutage Häftlinge Herztransplantate bekommen? Hast du schon mal so etwas Idiotisches gehört? Unsereiner braucht eine Leber, eine Niere oder ein paar neue Augäpfel, und man könnte mit Mutter Teresa heilig gesprochen werden, aber nein, du musst warten, weil ein Serienmörder in San Quentin oder ein Kinderschänder in Attica vor dir an der Reihe ist.«
    Er nahm ein Stück Treibholz und malte damit etwas in den Sand. Es war die kindliche Zeichnung eines Wolkenkratzers. »Kannst du dir vorstellen, was es bedeutet, der Welt etwas zu hinterlassen, das du nur mit deiner Fantasie und deinem Talent erschaffen hast? Ich habe immer wieder vor diesen herrlichen Bauwerken gestanden, die Val auf einem Stück Papier entworfen und dann bis zur Fertigstellung begleitet hat. Weißt du, wie glücklich es sie machte, Gebäude zu erschaffen, in denen Generationen von Menschen leben oder arbeiten werden? Und ich? Ich stecke einen Verbrecher nach dem anderen hinter Gitter als ob das verdammt noch mal irgendeinen Unterschied machen würde. Als ob nicht der Nächste schon dasteht, noch bevor die Handschellen zuschnappen. Dann lässt sich einer deiner feigen Kollegen zu einer Strafmilderung überreden und ein paar Jahre später sind sie wieder auf freiem Fuß, rammen sich Nadeln in die Venen und bringen jeden um, der sie auch nur schief ansieht. Warum machen wir uns überhaupt die Mühe? Warum machen wir weiter?«
    Ich musste nichts sagen. Er kannte die Antwort genauso gut wie ich.
    Mike ging zum Dünenkamm hinauf, setzte sich auf den Weg, der auf der anderen Seite wieder nach unten führte und starrte auf den Horizont. »Ich verstehe, warum du immer wieder hierher kommst.«
    Ich stapfte langsam durch den Sand zu ihm hoch.
    »Ich habe

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