Im Saal der Toten
hat ebenso geschlossen wie die Restaurants und Gasthöfe. Keine frittierten Muscheln im Bite, kein Hummersandwich im Galley, kein Abendessen mit Meeresblick im Homeport, keine frittierten Meeresschnecken im Cornerway, und kein frisch gefangener Schwertfisch von Larsen’s. Aber ich hatte immer Muschelsuppe im Gefrierfach und taute sie uns zum Abendessen auf. Mike stocherte mit seinem Löffel im Teller herum, während wir ihn mit Erinnerungen an gemeinsame Abende und Wochenenden abzulenken versuchten.
Er stand vom Tisch auf und öffnete das Barschränkchen. Dann schloss er es wieder und drehte sich zu Mercer um. »Trinken wäre zu einfach. Hast du Lust auf einen Spaziergang?«
Die beiden verließen das Haus durch die Hintertür und verschwanden im Dunkeln. Ich ging mit einem Buch ins Wohnzimmer, legte einige Holzscheite ins Feuer und schenkte mir einen Drink ein. Als sie wiederkamen, war es fast zehn Uhr.
Mike wärmte sich einige Minuten vor dem Kamin auf und verkündete dann, dass er versuchen wolle zu schlafen. Er umarmte Mercer und schleppte sich dann die Treppe hoch in den ersten Stock.
»Mittlerweile müsste er erschöpft genug sein, um ein paar Stunden zu schlafen«, sagte Mercer und setzte sich mit einem Glas Wodka zu mir.
»Hat er geredet?«
»Genug. Du weißt ja, dass er schon vor einem Jahr auf das Schlimmste gefasst war, als Vals Behandlung nicht so gut anschlug. Ausgerechnet jetzt, wo der Krebs besiegt schien, nimmt es ihn doppelt hart mit.«
»Um wie viel Uhr wollt ihr zurückfahren?«, fragte ich.
»Am besten mit einer Fähre am späten Vormittag. Dann sind wir gegen sechs Uhr wieder in der Stadt.«
»Hast du heute Nachmittag Lieutenant Peterson erreicht?«
»Ja. Wir zwei müssen uns am Wochenende unterhalten. Mike können wir fürs Erste abschreiben.«
»Ich habe eine Liste gemacht.« Ich zählte die Namen an den Fingern der linken Hand ab. »Jetzt, wo wir wissen, was der Rabenverein ist, müssen wir noch einmal mit Professor Tormey sprechen. Ich kümmere mich auch noch mal um Gino Guidi, egal ob Ellen Gunsher mit seinem Anwalt eine neue Abmachung getroffen hat oder nicht.«
»Ihr habt nie mit ihm über Poe geredet, und dabei ist er ein Hauptsponsor des Cottage.«
»Das wussten wir aber zu dem Zeitpunkt noch nicht. Emilys Kumpel Teddy Kroon muss uns auch noch ein paar Fragen beantworten, wenn es nach mir geht.«
»Ich will Mike jetzt nicht darauf ansprechen«, sagte Mercer, »aber du warst doch mit ihm bei diesem pensionierten Cop, richtig?«
»Aaron Kittredge? Ja.«
»Mike hat den Lieutenant gebeten, seine Akte raussuchen zu lassen. Loo hat mir heute davon erzählt. Ich kümmere mich als Erstes um Kittredge, wenn wir zurück sind.«
»Warum?«
»Er hat den Polizeidienst ohne Pensionsanspruch verlassen. Er musste ihn gerichtlich einklagen.«
»Das hat er uns erzählt. Weißt du mehr darüber?«
»Er ist in den Central Park degradiert worden«, sagte Mercer. »Zur Gummiwaffeneinheit.«
Schießwütigen Cops, die in irgendwelche Schießereien verwickelt gewesen waren, nahm man während der Dauer der Ermittlungen die Dienstwaffen ab. Diejenigen, die um eine Anklage herumkamen, wurden einer uniformierten Einheit zugeteilt, in der sie wenig Schaden anrichten konnten. Der Central Park war eine dieser Ausweichzonen – praktisch keine Bewohner, nur Eichhörnchen und Tauben, denen man gefährlich werden konnte.
»Wen hat er erschossen?«, fragte ich.
»Erinnerst du dich an die Geschichte, die uns Zeldin und Phelps erzählt haben?«
»Natürlich«, sagte ich und klappte mein Buch zu. »Die Sache vor zehn Jahren. Der Cop, der im Botanischen Garten mit Zeldin verabredet war und einen Jungen in den Rücken geschossen hat. Warum wollte Kittredge damals mit Zeldin sprechen? Das war mindestens zehn Jahre, nachdem er Emily Upshaw kennen gelernt hatte. Warum sein wiedererwachtes Interesse an Poe, wenn wir davon ausgehen, dass er mit Zeldin darüber sprechen wollte?«
»Ich habe den ganzen Nachmittag darüber nachgedacht und bin zu keinem Schluss gekommen. Wir knöpfen uns am Sonntagvormittag als Erstes Kittredge vor. Bist du mit von der Partie?«
Mercer wünschte mir eine gute Nacht und ging nach oben in sein Zimmer. Ich sah mir noch die Spätnachrichten im Fernsehen an und ging dann ebenfalls ins Bett. Über Mikes erschütterndem Verlust hatte ich ganz vergessen, was mir gestern passiert war. Meine Kopfschmerzen waren jetzt nur noch ein dumpfes Pochen.
Kurz vor sieben Uhr roch ich frisch
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