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Im Saal der Toten

Im Saal der Toten

Titel: Im Saal der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Fairstein
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dich beobachtet, damals, als wir das erste Mal zusammen gearbeitet haben«, sagte Mike. »Ich … ich hatte von Adams Unfall gehört. Der Typ, mit dem du dir damals das Büro geteilt hast, hat es mir erzählt. Ich fragte mich, wie du in deinem Alter mit dem Schmerz fertig wurdest. Ich versuchte herauszufinden, wie du jeden Morgen aufstehen und weiterleben konntest. Ich verstand nicht, warum du dich überhaupt mit all den bedürftigen Wracks abgegeben hast, die zu dir kamen, warum du ihnen helfen wolltest, anstatt die Tür hinter dir zuzumachen und allem den Rücken zu kehren.«
    »Denkst du, dass ich nicht monatelang in Selbstmitleid zerflossen bin? Denkst du, dass ich anders drauf war als du jetzt?«
    Ich streckte meine Hand aus und ließ mich von Mike zu sich hochziehen.
    »Du wolltest im Krankenhaus die Augen offen halten, weil du Angst vor deinen Albträumen hattest«, sagte er. »Ich hätte nichts dagegen zu träumen. Das ist alles, was ich noch habe. Schlimmer ist es, jedes Mal beim Aufwachen als Erstes an Val zu denken und sie vor mir zu sehen. Sie hat so tapfer gekämpft.«
    Ich trat hinter ihn und legte ihm die Hände auf die Schultern. Da er sie nicht wegschob, ging ich in die Hocke und begann, seine Schultern zu massieren.
    »Wie lange, Coop? Du weißt doch auf alles eine kluge Antwort. Weißt du auch, wie lange es dauert?«
    »Länger, als du dir jetzt vorstellen kannst.« Ich erzählte ihm von der Leere, der Ungerechtigkeit und der abgrundtiefen Trauer, die ich empfunden hatte. Ich erzählte ihm von meinen dunkelsten Augenblicken und den schwierigsten Dingen, die ich trotz meiner Verzweiflung tun musste.
    »Wird es irgendwann aufhören? Sag mir, dass dieser Schmerz eines Tages aufhört.«
    »Er wird immer bei dir sein, Mike. Wie du schon gesagt hast: Noch bevor du am Morgen deine Augen aufmachst, wird dir irgendeine Erinnerung an Val schier das Herz brechen. Jeden einzelnen Morgen. Sie wird dein erster Gedanke sein.« Ich hielt inne und lehnte mich ein wenig zurück. »Aber eines Tages, vielleicht in acht Monaten, vielleicht in einem Jahr, wirst du aufwachen und an etwas denken, das du am Vortag vergessen hast, an einen Anruf, den du erledigen musst, an etwas, das du deiner Mutter versprochen hast. An irgendetwas Banales.«
    Ich stand auf. Die Sonne war fast untergegangen, und es wurde kälter.
    »An diesem Tag – an dem Tag, an dem sich etwas vor Val in dein Bewusstsein schmuggelt – wirst du dich am meisten hassen. Du wirst noch wütender sein als jetzt. Wütend auf dich, dass du das zugelassen hast. Aber dann wird es immer öfter passieren. Und jedes Mal wirst du dich dafür verachten, das Andenken an Val mit solch unbedeutenden Gedanken zu verraten. Bis zu einem Tag in weiter Ferne, den du dir jetzt noch gar nicht vorstellen kannst, wenn die schönen und traurigen Erinnerungen sich die Waage halten werden.«
    »Das scheint mir unmöglich.« Mike stand auf und wischte sich den Sand von der Hose. »Ich glaube nicht, dass ich jemals damit fertig werde.«
    »Das glaubt niemand. Das will niemand glauben.«
    »Du kommst hierher, um in seiner Nähe zu sein, hab ich Recht? Du fühlst dich Adam hier näher.«
    Ich antwortete nicht.
    »Der Himmel, das Meer, der ellenlange Sandstrand – und weit und breit keine Menschenseele«, sagte er. »Hier wird einem wirklich die eigene Sterblichkeit bewusst.«
    Er zog ein schwarzes Samtsäckchen aus der Hosentasche und reichte es mir. »Mach auf. Los, mach schon.«
    Ich schnürte es auf und kippte den Inhalt in meine Handfläche. Zum Vorschein kam ein Diamantring – ein schmaler Goldring mit einem kleinen Brillanten in einer klassischen runden Fassung.
    »Er ist wunderschön.« Der Edelstein glitzerte im letzten Sonnenlicht, das vom Wasser reflektiert wurde. »Hat Val –«
    »Nein, es sollte eine Überraschung sein«, sagte Mike. »Zum Valentinstag. Ich hatte ihn im obersten Fach ihres Schlafzimmerschranks versteckt, wo sie nicht hinkam.«
    Kein Wunder, dass er die letzten zwei Monate so knapp bei Kasse gewesen war.
    Er nahm mir den Ring aus der Hand und lief die Dünen hinab ans Wasser. Ich schrie ihm hinterher, aber ich wusste, dass ich ihn nicht aufhalten konnte. Ich sah zu, wie Mike in das eiskalte Wasser watete, weit ausholte und Vals Ring in die Wellen schleuderte, die ihn ins Meer hinaustrugen.

 

34
     
    Wir hatten alle drei keinen großen Appetit.
    Im Winter ändern sich in Chilmark nicht nur die Landschaft und das Laubkleid der Bäume. Der General Store

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