Im Saal der Toten
bekannte Plastikröhrchen war fünfzehn Jahre lang unverzichtbarer Bestandteil jeder Herzklappenoperation des Landes gewesen.
Mein Vater richtete für jeden von uns einen Treuhandfonds ein und ermutigte uns, der Gesellschaft durch eine Tätigkeit im öffentlichen Dienst etwas zurückzugeben. Nach meiner Schulzeit in Westchester besuchte ich zunächst das Wellesley College und studierte danach Jura an der Universität von Virginia. Dort, in Charlottesville, verliebte ich mich in Adam Nyman, einem jungen Arzt, mit dem ich ein altes Farmhaus auf Martha’s Vineyard kaufte. Er kam am Tag vor unserer Hochzeit auf der Fahrt dorthin bei einem Autounfall ums Leben.
»Manchmal ist es schon seltsam. Viele meiner Freunde wussten lange vor mir, dass es mit Jake nicht funktionieren würde.«
Nina Baum, meine beste Freundin, hatte mich als Erste gewarnt. Dabei war ich mir anfangs meiner Liebe zu Jake so sicher gewesen, dass ich sogar eine Zeit lang zu ihm zog, um das Zusammenleben auszuprobieren.
»Die Anzeichen waren kaum zu übersehen, Kid. Er war einfach nicht da, wenn du ihn brauchtest.«
»Oder wenn ihr dachtet, dass ich ihn brauche.«
Mike verspeiste sein Kotelett, während ich das Risotto auf meinem Teller lustlos hin- und herschob. »Iss auf, bevor ich mich auch noch über dein Essen hermache«, sagte er und deutete mit der Gabel auf meinen Teller. »Mercer und ich haben uns alles genau überlegt. Was du brauchst, ist ein netter Intelligenzbolzen, der einen soliden Nine-to-five-Job hat und nicht ständig in Asien herumschwirrt, um über Katastrophen oder Gipfeltreffen zu berichten.«
Jake war Reporter für einen großen Nachrichtensender und verbrachte mehr Zeit in Flugzeugen als ich an Tatorten. »Es waren nicht nur die Reisen –«
»Hey, ich bin noch nicht fertig. Er muss äußerst selbstbewusst sein und –«
»Ich kann warten, bis du aufgegessen hast.«
»Siehst du? Genau das meine ich. Eigentlich wolltest du jetzt sagen, dass ich nicht mit vollem Mund reden soll, stimmt’s? Du kannst es einfach nicht lassen! Am wichtigsten ist, dass der Kerl absolut stumm ist.«
»Weil ich ihn nicht zu Wort kommen lassen würde?«
»Nein, weil der Drang, dir den Mund zu verbieten, zu stark wäre.«
»Möchtest du was Interessantes hören?«, fragte ich.
»Lenk nicht ab. Du denkst doch nicht, dass mich das davon abhalten wird, den richtigen Kerl für dich zu finden? Andernfalls kriegen Mercer und ich deinen ganzen Frust allein ab.«
»Ich bin momentan nicht im Geringsten frustriert. Mir ist nur gerade etwas eingefallen. Heute Abend war ich schon zum zweiten Mal in einem Raum, in dem Edgar Allan Poe gelebt hat.«
»Mit oder ohne Leiche?«
»Da müssten wir wohl unter den Bodendielen nachsehen. Er hat 1826 ein Jahr lang an der Universität von Virginia studiert. Ich glaube, die Uni war damals erst ein Jahr alt. Poe wohnte an der Westseite des Lawn. Man kann das Zimmer so besichtigen, wie er es bewohnt hat: ein Kamin, ein kleines Bett, ein Stuhl und ein Schreibtisch. Zimmer Nummer dreizehn.«
»Abergläubisch? Ich hätte dort nicht wohnen können.«
Giuliano setzte sich zu uns an den Tisch. »Ich habe mir gerade im Büro die Spätnachrichten angesehen. Dieser Seidenstrumpfvergewaltiger – ist das Ihr Fall, Alexandra?«
»Ja. Wieder mal.«
»Sie halten mich bestimmt für verrückt, aber ich schwör’s. Sie wissen schon – das Phantombild, das gerade im Fernsehen zu sehen war? Der Mann war vor ein paar Tagen hier gewesen. Er saß ein, zwei Stunden lang mit ein paar Kumpels dort drüben an der Bar. Ich schwör’s, es war Ihr Vergewaltiger.«
7
»Das war nur eine Zeichnung, Giuliano. Kein Foto.«
»Ich weiß. Aber er hat ein ungewöhnliches Gesicht, oder nicht?«
Falls die Zeichnung tatsächlich dem Täter ähnelte, musste ich ihm Recht geben. Meistens sahen die Porträts der Polizeizeichner so unspezifisch aus, dass kein Mensch mit ihrer Hilfe einen Verbrecher identifizieren könnte. Aber alle Opfer hatten die Gesichtszüge dieses Täters vor vier Jahren übereinstimmend beschrieben und die Ähnlichkeit der Phantomzeichnung bestätigt. Er hatte beinahe etwas Engelhaftes an sich, mit seinen runden, vollen Wangen, die ihm den Anschein gaben, als würde er andauernd die Augen zusammenkneifen. Wegen seiner schwarzen Hautfarbe war der dünne Oberlippenbart kaum zu sehen, aber mehrere Frauen hatten beschrieben, wie er sich anfühlte.
»An welchem Abend war das?«, fragte Mike.
In seinem Restaurant entging
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