Im Saal der Toten
wartete, bis mir ein Portier die Tür aufhielt und mich zum Aufzug brachte.
Ich schaltete das Licht ein und hängte meinen Mantel und meinen Schal im Flur auf. Dann nahm ich den Stapel Post von der Kommode, wo ihn meine Haushälterin hingelegt hatte, und ging damit ins Schlafzimmer. Mein Anrufbeantworter blinkte nicht, ein weiteres Zeichen meines neuen Singledaseins. Früher hatte mir Jake Tyler aus der ganzen Welt liebevolle und aufmunternde Nachrichten hinterlassen, egal zu welcher nachtschlafenden Stunde ich nach einem anstrengenden Tag nach Hause kam.
Ich schaltete die Lokalnachrichten ein, während ich mich auszog, wusch und ins Bett kroch. Nach Beiträgen über eine verdächtige Sicherheitslücke in einem Atomkraftwerk in Upstate New York und einen Autounfall am Times Square, bei dem drei Touristen ums Leben gekommen waren, kam der Bericht über die Pressekonferenz des Polizeipräsidenten.
Mit Mercer und der Fahndungszeichnung auf einer Staffelei hinter sich erklärte der Polizeipräsident, dass das Sonderdezernat für Sexualdelikte ein Tatmuster im neunzehnten Revier auf der Upper East Side identifiziert hätte. Die Reporter, die Fotokopien der Fahndungszeichnung in der Hand hielten, notierten sich hastig die Details.
»Es handelt sich um die dritte Tatserie, die das Sonderdezernat für Sexualdelikte in diesem Jahr –«
»Wie kommt es, dass wir von den ersten beiden nichts mitbekommen haben?«, rief Mickey Diamond, der altgediente Reporter der New York Post.
Der Januar war noch nicht einmal vorbei, und schon hatten drei Serientäter jeweils eine Ecke von Manhattan für sich monopolisiert.
»Die erste ist in Chinatown, Mickey. Drei Entführungen von Frauen, die sich illegal hier aufhalten. Für unsere Ermittlungen spielt das nicht die geringste Rolle, aber manche Familienangehörige der Opfer halten sich aus dem Grund bedeckt. Wir freuen uns natürlich über alle Informationen, die wir bekommen können.« Oder anders ausgedrückt: wir anderen konnten beruhigt sein, da es der Täter auf arme Immigrantinnen abgesehen hatte, die wegen ihres illegalen Aufenthaltsstatus kaum die Polizei um Hilfe bitten würden.
»Tatserie Nummer zwei ist in Washington Heights«, fuhr der Polizeipräsident fort. »Wir hatten es seit Ende letzten Jahres mit fünf Fällen zu tun. Die Tatorte sind alle bekannte Drogenumschlagplätze.«
»Junkies?«, unterbrach Mickey erneut. »Junkies und Nutten?«
»Die Opfer haben einen alternativen Lebensstil, Mickey. Bislang waren sie sehr kooperativ. Wir haben ein paar Verdächtige und machen große Fortschritte bei unseren Ermittlungen.«
Kein Wunder, dass noch keine Pressekonferenz zu den Tatserien Nummer eins und zwei stattgefunden hatte, an denen meine Abteilung und Mercers Dezernat rund um die Uhr arbeiteten. Diese Fälle hatten scheinbar keine Auswirkungen auf das Leben der meisten Bewohner von Manhattan. Die Upper East Side jedoch war ein anderes Pflaster; passierte dort ein Verbrechen, versetzte es Einwohner, Politiker und Medien gleichermaßen in Alarmbereitschaft. Lage, Lage, Lage, wie es im Immobiliengeschäft immer hieß.
Der Polizeipräsident versuchte, den Faden wieder aufzunehmen. »Am sechsundzwanzigsten Januar, um drei Uhr morgens, wurde eine zweiundzwanzigjährige Frau beim Betreten ihres Hauses in der 66. Straße Ost, Hausnummer 337, zwischen der Second und First Avenue, überfallen.«
Er beschrieb den Tathergang in allen Einzelheiten. Die Messerstecherei würde für größere Aufregung sorgen als ein Sexualverbrechen. Wenn von einer Vergewaltigung die Rede war, dachten viele Leute immer noch, die Frau habe diese auch durch ihr eigenes Verhalten provoziert, und gingen von einer »Mitschuld des Opfers« aus. Da sie glaubten, dass ihnen so etwas nicht passieren könne, zogen sie gar nicht erst in Betracht, selbst das nächste Opfer zu werden.
Jetzt gab der Polizeipräsident den Journalisten den Aufhänger, auf den sie gewartet hatten. »Sie erinnern sich vielleicht, dass die Polizei bereits vor vier Jahren eine Tatserie im neunzehnten Revier bekannt gegeben hat. Diese Tatserie wurde nie aufgeklärt, da der Täter plötzlich von der Bildfläche verschwunden zu sein schien. Sie, meine Damen und Herren von der Presse, nannten ihn damals den Seidenstrumpfvergewaltiger, ein viel zu eleganter Name für jemanden, der so barbarisch mit seinen Opfern verfährt.«
Jetzt kam Leben in die Reporterschar. »Hat er wieder zugeschlagen?«, rief einer.
»Das Gerichtsmedizinische
Weitere Kostenlose Bücher