Im Saal der Toten
sei Dank mit dem Schrecken davon, aber seither wollte ich sie nie wieder sehen.«
»Verstehe.« Mercer füllte ihr Wasserglas am Waschbecken auf.
»Nach ihrem Schulabschluss bekam sie ein Stipendium für die New York University. Sie war froh, das Baby bei mir lassen zu können. Emily hasste uns und unser glückliches Familienleben, sie glaubte in New York dieser Kleinstadtmoral entfliehen zu können.«
»Hat sie sich an Ihre Abmachung gehalten?«
»Ja, sehr gewissenhaft. Ihr Baby war im Bourbon- und Marihuana-Rausch bei einem One-Night-Stand gezeugt worden. Mein Mann glaubt, dass es an dem Wochenende passiert ist, als sie das erste Mal zu einem Auswahlgespräch nach New York flog. Das Geburtsdatum würde dazu passen. Für Emily war das Baby nur eine Last und allenfalls Material für ihren großen amerikanischen Roman. Sie machte sich nichts aus ihrem Kind – oder sonst jemandem in unserer Familie. Alles war nur Stoff für einen Roman.«
»Also wissen Sie nicht sehr viel über ihr Leben, nachdem sie weggegangen ist?«
»Nur indirekt. Meine Mutter und ich haben oft über Emily gesprochen. Für meine Mutter war die Entfremdung von ihrer jüngsten Tochter natürlich die größte Tragödie ihres Lebens. Betsy und ich waren die einzigen beiden Menschen, bei denen sie sich ausheulen konnte. Als sie sich endlich eingestand, dass Emily ernsthafte Alkohol- und Drogenprobleme hatte und Hilfe brauchte, studierte Emily bereits in New York. Ich für meinen Teil wollte mich durch die Gespräche mit meiner Mutter eigentlich nur vergewissern, dass Emily nicht zurückkommen würde.«
»Und das hat sie nicht getan?«
»Sie hat es nur einmal versucht. Das war vor über zwanzig Jahren, aber mein Mann gab ihr deutlich zu verstehen, dass sie nicht willkommen war. Danach haben wir nie wieder von ihr gehört.«
»Und Emilys Tochter? Hat sie nie versucht, Kontakt mit ihrer Mutter aufzunehmen?«
» Meine Tochter, Miss Cooper. Amelia ist meine Tochter, verstehen Sie das?«
»Was können Sie uns sonst noch über Emily erzählen?«, fragte Mike. »Wissen Sie, woran sie in letzter Zeit gearbeitet hat?«
»Ich nehme an, sie hat geschrieben.«
»Wissen Sie Genaueres? Gab es irgendetwas, das sie in eine gefährliche Lage hätte bringen können?«
»Unsere Eltern sind beide tot, Mr Chapman. Ich weiß nichts über die letzten beiden Lebensjahre von Emily. Wir hatten keinerlei Kontakt.«
»Dann lassen Sie uns von vorne anfangen.« Mike hatte sich auf seinem Notizblock nur NYU ? notiert. »Wissen Sie, ob sie das Studium beendet hat?«
»Ja. Mit einem Jahr Verspätung, glaube ich, weil sie immer wieder in Schwierigkeiten geriet.«
»Sie meinen ihre Suchtprobleme?«
»Ja, natürlich war da der Alkohol.« Sally lehnte sich zurück und legte ihre Hände auf den Tisch. »Einmal wurde sie auch bei einem Kaufhausdiebstahl erwischt. Ich, äh, ich komme mir schlecht vor, davon zu erzählen, aber das finden Sie sicherlich ohnehin in den Polizeiakten. Soweit ich weiß, wurde die Anklage fallen gelassen, weil es ihre erste Verhaftung war. Aber laut meiner Mutter wurden ihre Probleme immer größer, nachdem sie anfing, härtere Drogen zu nehmen. Kokain und so.«
»Woher hatte sie das Geld dafür?«, fragte ich.
Sally Brandon schürzte die Lippen. »Sie halten mich bestimmt für schrecklich feindselig, aber Sie sprechen alle meine wunden Punkte an. Meine Mutter schickte ihr Geld. Alles, von dem sie dachte, dass es meinem Vater nicht auffallen würde. Jedes Mal, wenn ihr mein Vater etwas Geld gab, damit sie sich eine Freude machte und sich etwas Hübsches kaufte, schickte meine Mutter das Geld an Emily. Ich wusste viele Jahre nichts davon, sonst hätte ich es schon früher unterbunden.«
»Hat Ihre Schwester jemals von ihren Beziehungen erzählt?«, fragte Mike.
Sally lachte. »Sie kannten meinen Vater nicht. Niemand, der Emilys Weg kreuzte, durfte zu Hause erwähnt werden. Sie hätte mit meinen Eltern nie über so etwas gesprochen.«
»Monty – der Name Monty – sagt Ihnen also nichts?«
Sally Brandon dachte einen Augenblick nach und schüttelte dann den Kopf. »Nein, gar nichts. Sie hat ein paar Monate mit jemandem zusammengewohnt. Als sie mit ihm Schluss machte, wollte sie wieder nach Michigan zurückkommen und bei uns einziehen.« Sie hielt inne. »Und dann war da auch noch ein Polizist, der sich eine Zeit lang um Emily gekümmert hat. Mutter meinte, er sei gut für sie, aber ich bezweifle, dass es etwas Ernstes war. Ich glaube nicht,
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