Im Saal der Toten
dass einer der beiden Monty hieß, aber ich bin mir nicht sicher. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es sich um zwei verschiedene Männer handelte.«
Die Erinnerung an Dinge, die sie so viele Jahre verdrängt hatte, schien Sally Brandon zu verwirren.
»Was war das für ein Polizist?«
»Er hatte etwas mit ihrer Verhaftung zu tun. Ich kenne seinen Namen nicht, aber er hat ein paar Mal mit Mutter telefoniert. So viel ich weiß, hat er versucht, Emily zu helfen. Er und ihr Literaturprofessor, der sie zu ihrer ersten Therapie überredet hat. Das waren, glaube ich, die einzigen beiden Männer seit Emilys zwölftem Lebensjahr, die ihr wirklich etwas Gutes tun wollten, anstatt sie auszunutzen.«
Kroon hatte auch einen Professor erwähnt, der Emily zu einer Therapie geraten hatte.
»Vielleicht erinnert sich mein Mann an die Namen. Sie können ihn gern anrufen und ihn fragen. Sie hatte damals mit ihm gesprochen, als sie uns um Hilfe bat und wieder eine Weile bei uns wohnen wollte.«
Mike notierte sich die Telefonnummer.
»Ich kann nach den alten Manuskripten Ausschau halten, wenn ich morgen ihre Sachen durchgehe«, sagte Sally Brandon abschätzig. »Wenn ihr Freund nicht eine Ausgeburt von Emilys Alkoholdelirien war, dann hat sie den Verrückten bestimmt in einen ihrer Romane eingebaut.«
»Was meinen Sie mit ›dem Verrückten‹?« Ich musste an Kroons Worte denken.
»Ach, das war damals ihre Ausrede, mit der sie versuchte, sich wieder in unser Leben zu drängen, Miss Cooper. Aber ich hatte mit einem Psychiater gesprochen, einem Facharzt für Drogenmissbrauch. Daher wusste ich, wie manipulativ Drogensüchtige sind, und weder mein Mann noch ich fielen auf Emilys Geschichten herein. Der Arzt meinte, dass sie uns nur einen Bären aufzubinden versuchte.«
»Was hat sie Ihrem Mann erzählt?«
»Dass sie New York verlassen müsse, weil ihr Leben in Gefahr sei.« Brandon tat den Gedanken mit einer Handbewegung ab. »So war sie. Sie übertrieb immer und erzählte haarsträubende Geschichten.«
»Hatte sie vor jemand Bestimmtem Angst?« Der Mord an Emily legte nahe, dass ihre Angst unter Umständen nicht unbegründet war, das wollte ich Sally Brandon klar machen.
»Vor ihrem Freund, behauptete sie. Wir konnten nur ahnen, welche Probleme dieser junge Mann gehabt haben muss. Nachdem er bei ihr eingezogen war, ist sie ihn wohl nicht wieder losgeworden, also wollte sie vorübergehend wieder zu uns kommen.«
»Hat er sie missbraucht?«, fragte ich. »Hatte sie deshalb Angst?«
»Sie hat nie erwähnt, dass er ihr wehgetan hat«, sagte Sally Brandon leise. »Das hätte ich ihr vielleicht geglaubt. Nein, es war … na ja, ehrlich gesagt, es klang wie eine von Emilys Geschichten, wenn sie sturzbesoffen war.«
»Was meinen Sie damit?«
»Emily erzählte meinem Mann, dass ihr Freund jemanden umgebracht hätte und sie deshalb schreckliche Angst vor ihm hätte. Sie war überzeugt, dass er eine Frau lebendig begraben hatte.«
16
»Morgenstund hat Gold im Mund. Ich hätte nicht gedacht, dass du heute Vormittag vor mir hier bist«, sagte Mike, als er am nächsten Tag um neun Uhr in mein Büro kam. »Du hast hoffentlich Frühstück besorgt. Ich bin total blank und am Verhungern.«
Ich zeigte auf die Tüte auf Lauras Schreibtisch. »Die zwei Bagels sind für dich. Wohin verschwindet in letzter Zeit bloß dein Geld? Ich leih dir gern etwas, wenn du was brauchst.«
»Das ist eine lange Geschichte. Erzähl ich dir nächste Woche. Aber falls es dir nichts ausmacht, würde ich mir tatsächlich gern zweihundert Dollar bis zum nächsten Zahltag leihen. Ich weiß, dass ich haushohe Jeopardy! -Schulden bei dir habe.«
»Nimm dir, was du brauchst.« Ich zeigte auf meine Tasche und wandte mich wieder dem Computerbildschirm zu. Ich war seit halb acht im Büro, um im Online-Archiv der Staatsanwaltschaft nach Informationen über Emily Upshaws Verhaftung wegen Ladendiebstahls zu suchen.
»Hast du was gefunden?«
»Die Computerdaten reichen nicht so weit zurück. Und wenn es ihre erste Verhaftung war, wurde die Anklage wahrscheinlich fallen gelassen.« Kam man das erste Mal mit dem Gesetz in Konflikt, bekam man sechs Monate auf Bewährung. Ließ man sich in dem Zeitraum nicht erneut etwas zu Schulden kommen, wurde die Anklage danach automatisch fallen gelassen.
Mike trat hinter mich und wählte eine Nummer. »Mit wem spreche ich? Hey, Ralph, du weißt doch – diese Upshaw, von der man gestern die Autopsie gemacht hat? Könntest du
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