Im Saal der Toten
Mädchen in dem Ziegelsarg ist. Er sagt, dass eine seiner Patientinnen vor fast fünfundzwanzig Jahren verschwunden ist. Die Anfangsbuchstaben ihres Namens waren A.T.«
15
»Dr. Ichiko, würden Sie uns bitte sagen, warum Sie heute Abend Ihre Meinung geändert und sich entschlossen haben, die Identität Ihrer früheren Patientin nun doch nicht preiszugeben?« Der Reporter von New York One hatte den Psychiater vor seiner Praxis auf der Sixth Avenue abgefangen, und das Interview war der Aufmacher der Sieben-Uhr-Nachrichten.
Der Arzt klappte seinen Kragen hoch und entfernte sich eilig von den Kameras.
»Stimmt es, dass man Ihnen eine beträchtliche Geldsumme geboten hat, damit Sie morgen Abend in einer Reality-TV-Show auftreten?«
Der Arzt hielt die Hand vor die Kamera und versuchte den Reportern auszuweichen, indem er zwischen zwei geparkten Autos hindurch auf die Straße trat.
»Dr. Ichiko, die Polizei glaubt, dass sie es mit einem Mord zu tun hat, und Sie weigern sich, mit ihnen zu reden. Habe ich Recht?« Der Reporter gab auf und sah wieder in die Kamera. »Das war Dr. Wo-Jin Ichiko, der möglicherweise den Schlüssel in der Hand hält, was den mysteriösen Fund des weiblichen Skeletts angeht, von dem wir letzte Woche berichtet haben. Scheinbar ist der gute Doktor bereit, aus der Praxis zu plaudern – allerdings nur zum richtigen Preis.«
Mike, Mercer und ich saßen in Brenda Whitneys Büro und sahen uns die Abendnachrichten an. Ich hatte Mike um halb sechs Uhr angepiept, nachdem Battaglia die Reporter hinauskomplimentiert hatte, und er erzählte uns jetzt, was es mit dem Psychiater auf sich hatte.
»Ichiko will einfach nur seine fünfzehn Minuten im Rampenlicht vergolden. Er hat eine miese kleine Praxis, in der er hauptsächlich Penner, Säufer und Fixer behandelt, und wittert das große Geschäft«, sagte Mike.
»Wen hat er als Erstes angerufen?«, fragte Mercer.
»Er fing mit der Post an, nachdem er ihren Artikel gelesen hatte. Dort war man ganz wild auf einen Exklusivbericht mit ihm. Die Polizei kam nur dahinter, weil die Redakteure im Präsidium anriefen, um sich zu vergewissern, dass der Kerl kein Scharlatan ist. In der Zwischenzeit genoss Ichiko die Reaktion der Presse so sehr, dass er bei verschiedenen Fernsehsendern anrief, um seine Story an den Meistbietenden zu verkaufen.«
»Ich dachte, die Medien dürften ihre Nachrichtenquellen nicht bezahlen. Gibt es da nicht ethische Richtlinien?«, sagte ich.
»Du verwendest ›Ethik‹ und ›Medien‹ im selben Atemzug? Ich hätte dich für intelligenter gehalten, Coop. Der Nachrichtenproduzent hat Dr. Ichiko einen Doppel-Deal angeboten. Er hat ihn an diese Reality-Show – Crime Factor – weiterverwiesen, in der Exhäftlinge ausplaudern, was ihre schlimmsten Vergehen waren und wie sie das System ausgetrickst haben. Sie wollen ihm für das, was er über das Verschwinden des Mädchens weiß, fünfundzwanzigtausend Dollar zahlen, und die Abendnachrichten senden dann Ausschnitte davon. Wir bekommen, was übrig bleibt.«
»Kommt dir das bekannt vor?«, fragte ich Mike.
»Und wie.«
Wir hatten vor einigen Jahren in einem viel beachteten Mordfall zusammengearbeitet. Eine junge Frau war erdrosselt worden, und der Angeklagte war während des Prozesses auf einer Party von Freunden dabei gefilmt worden, wie er völlig zugekokst mit einer Puppe spielte, ihr das Genick brach und dabei frech in die Kamera lachte. Anstatt die Polizei von der Existenz des Videobandes in Kenntnis zu setzen, verkaufte es der rührige Jungfilmemacher an eine Boulevardsendung, die die Aufnahmen nach Ablauf des Prozesses zeigte.
»Weiß Scotty davon?«, fragte ich. Scotty Taren war der zuständige Detective bei der Abteilung für ungelöste Fälle.
»Er hat es im Radio gehört und ist sofort zur Praxis rübergesaust. Die Empfangsdame hat ihn nicht vorgelassen.«
»Sag Scotty, er soll morgen früh gleich als Erstes in mein Büro kommen«, sagte ich. »Wir leiten eine Grand-Jury-Ermittlung ein und laden den guten Doc vor. Wenn er nicht mit der Polizei reden will, dann muss er eben den Geschworenen seine Geschichte erzählen. Falls er sich weigert, klagen wir ihn wegen Missachtung des Gerichts an.«
Mike klemmte sich an Brendas Telefon, während Mercer und ich die Nachrichten zu Ende ansahen. Eine von Emily Upshaws Schwestern war nach New York gekommen, um den Leichnam nach Michigan zu überführen. Sie hatte in Kürze einen Termin beim Gerichtsmediziner und hatte sich bereit
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