Im Saal der Toten
Dr. Chet Kirschner, dem leitenden Gerichtsmediziner, das er uns für das Gespräch mit Emilys Schwester zur Verfügung gestellt hatte. Die Frau saß mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen auf einem Stuhl und drehte ein zerknülltes Taschentuch in den Händen.
Wir stellten uns vor und erklärten ihr, welche Rolle wir bei den Ermittlungen spielten. Sally Brandon schien knapp fünfzig Jahre alt zu sein, sie war größer und schlanker als ihre jüngere Schwester. Sie hatte soeben die Leiche gesehen und rang nach Fassung.
Mike und Mercer beantworteten die meisten Fragen, die Sally zu dem Mord an ihrer Schwester hatte. Mercer übernahm das Kommando; seine bestimmte, aber mitfühlende Art war für Opfer und Angehörige gleichermaßen beruhigend. Mike hingegen tat sich schwer mit diesem emotionalen Händchenhalten, das zudem die Ermittlungen verzögerte, und bevorzugte die Arbeit an Mordfällen.
Als Sally Brandon keine Fragen mehr hatte, drehten Mike und Mercer den Spieß um.
»Sie war die Jüngste, Mr Wallace. Ich bin sieben Jahre älter, und Betsy liegt genau in der Mitte. Als Kinder steckten wir immer zusammen, aber als ich mit achtzehn aufs College ging, war Emily erst elf.«
»Welche Beziehung hatten Sie als Erwachsene zueinander?«
Sally zupfte an ihrem Taschentuch. »Ich befürchte, keine. Ich habe gleich nach dem College geheiratet und Kinder bekommen. Emily ist nach New York gezogen, und ab da hat sie meinen Eltern erst recht das Leben schwer gemacht.«
»In welcher Hinsicht?«
Sie seufzte. »Ich nehme ihr immer noch übel, welche Schwierigkeiten sie uns damals gemacht hat. Das hört sich wohl ziemlich hart an, jetzt, da sie tot ist.«
»Erzählen Sie uns bitte mehr darüber.«
»Emily hatte es als Jüngste nicht leicht. Unsere Eltern waren sehr religiös – sie waren Presbyterianer –, und Betsy und ich machten ihnen nie die geringsten Sorgen. Aber Emily rebellierte von dem Augenblick an, als sie in die Pubertät kam. Sie ließ sich mit einigen leichtlebigen älteren Kids ein und fing schon in der neunten, zehnten Klasse an zu trinken.«
»Nahm sie damals auch schon Drogen?«, fragte Mercer.
»Das wussten wir nicht. Keiner in unserer Familie konnte sich so etwas vorstellen. Ich war damals schon am College und habe keine Ahnung, welche Symptome Emily an den Tag legte. Meine Mutter verleugnete es total, und mein Vater glaubte, mit Beten alle Probleme lösen zu können. Es wurde nicht darüber gesprochen.«
»Hat sie den Schulabschluss geschafft?«
»Das war das Einzige, das ihr Halt gab. Emily ging gern zur Schule, sie mochte alles, was mit Büchern zu tun hatte. Sie flüchtete sich immer in ihre Schreiberei.« Sally Brandon hörte auf, ihr Taschentuch um den Finger zu wickeln und sah mich an. »Fragen Sie mich nicht, wie sie es geschafft hat, aber sie hatte immer gute Noten, sogar wenn sie total dicht war.«
»Hat sie damals schon eine Therapie gemacht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Das Konzept war meinen Eltern fremd. Da hätten sie zugeben müssen, dass Emily ein Problem hat.«
»Sie haben alles ignoriert?«
»Nicht alles, Mr Wallace. Das ging spätestens dann nicht mehr, als Emily im sechsten Monat schwanger war.«
»Wann war das, Mrs Brandon?«
»In ihrem letzten Jahr an der High School. Eigentlich hätten wir damit rechnen können, aber für meine Eltern war es ein Schock. Sie konnten einfach nicht –« Sie rang nach Fassung. »Die Kleinstadt, in der sie wohnten, hatte nur achtzehnhundert Einwohner, und so etwas war damals inakzeptabel. Also haben sie Emily zu mir geschickt.«
»Hat sie das Kind bekommen?«
Sally Brandon nickte und begann zu weinen. »Ein Mädchen. Ja.«
»Was geschah mit dem Baby? Hat sie es zur Adoption freigegeben?«
»Nein, Miss Cooper. Ich hatte zu dem Zeitpunkt bereits zwei Jungen. Ich willigte ein, das Kind als mein eigenes großzuziehen. Unter einer Bedingung: dass Emily nie wieder mit ihrer Tochter oder mit mir Kontakt aufnehmen würde. Nie wieder.«
Das schien mir eine überaus strenge Auflage zu sein. »Darauf ist sie eingegangen?«
»Damals schien es ihr wunderbar in den Kram zu passen.« Sally Brandon richtete sich kerzengerade auf und sah mir in die Augen. »Einen Monat vor ihrer Entbindung passte Emily auf unsere zwei Jungs auf, während wir bei den Nachbarn zum Essen eingeladen waren. Bei der zweiten Flasche Wein schlief sie auf dem Sofa ein, die Zigarette fiel ihr aus der Hand und die Schonbezüge fingen Feuer. Sie und meine Söhne kamen Gott
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