Im Saal der Toten
Bekannte reden – eine alte Freundin.«
»Hab ich nicht. Hauen Sie ab.«
Ich war Mike gefolgt und stand jetzt ein, zwei Meter hinter ihm.
»Aber sie hält Sie für einen Freund. Sie braucht Ihre Hilfe.« Mike zögerte und nannte dann ihren Namen. »Emily Upshaw.«
Kittredge blieb stehen und zeigte auf mich. »Wer ist das?«
»Alexandra Cooper. Bezirksstaatsanwaltschaft.«
»Aus dem Spiel bin ich draußen. Was ist mit Emily? Trinkt sie wieder?«
»Hören Sie, zwanzig Minuten werden Sie wohl erübrigen können. Ich frier mir hier draußen die Eier ab.«
Kittredge ging uns voran in seine Wohnung im ersten Stock. Er schaltete das Licht ein und warf seine Lederjacke über einen Stuhl. An den grau gestrichenen Wänden hingen weibliche Aktstudien – genauer gesagt Aktstudien von einer einzigen Frau, die aus verschiedenen Perspektiven gemalt worden war.
»Das sind meine, falls es Sie interessiert. Ich male. Ich verbringe jeden Tag zwei Stunden im Fitnessstudio und tue keiner Fliege etwas zuleide. Nächste Frage.«
»Warum so feindselig, Kumpel?«, fragte Mike.
Das Fitnesstraining war nicht zu übersehen. Kittredges ein Meter fünfundsiebzig große Gestalt war kräftig und muskulös. Sein schwarzes T-Shirt wirkte wie auf seinen muskulösen Brustkorb gemeißelt, und seine Unterarme waren mit Tätowierungen übersät. Ich schätzte ihn auf circa fünfzig, aber seine Falten ließen ihn zehn Jahre älter aussehen.
»Haben Sie meine Adresse von der Polizei bekommen?«
Mike bejahte.
»Hat man Ihnen auch erzählt, was passiert ist?«
»Nein, gar nichts. Sie bekommen Ihren Rentenscheck, also haben Sie wohl nichts getan, was Sie zum Aussätzigen macht.«
»Ich habe einen guten Anwalt. Deshalb hat man mir meine Pension wieder zuerkannt. Versuchen Sie mal, sechs Jahre ohne Rente über die Runden zu kommen, noch dazu wenn Sie einen Prozess am Hals haben.«
Mike und ich setzten uns aufs Sofa. Kittredge stand im Durchgang zwischen der Küche und dem Wohnzimmer. Er holte sich einen Proteindrink aus dem Kühlschrank und trank direkt aus der Papptüte, während er darauf wartete, dass Mike etwas sagte.
»Warum hat die –«
»Das geht Sie nichts an. Was ist mit Emily?«
»Lesen Sie keine Zeitungen?«
»Nur an den Tagen, an denen sie gute Nachrichten drucken.«
»Dann haben Sie gestern Emilys Todesanzeige verpasst.«
Kittredge nahm erneut einen Schluck von dem Proteindrink. »Sind Sie hier, um für die Blumen zu sammeln?«
»Emily Upshaw ist ermordet worden.«
»Und Sie sind der tolle Hecht, der das Verbrechen aufklären will? Bisher bekleckern Sie sich nicht gerade mit Ruhm, Chapman. Sie verschwenden Ihre Zeit mit mir. Ich habe die Dame das letzte Mal vor achtzehn, zwanzig Jahren gesehen. Ich weiß nicht einmal, wie Sie auf mich gekommen sind.«
»Ihre Pinselstriche müssen ihr gefallen haben. In den alten Gerichtsunterlagen steht, dass sie hier wohnte, nachdem die Anklage wegen Ladendiebstahls fallen gelassen wurde.«
»Das Sofa, auf dem Sie gerade sitzen, habe ich für Emily gekauft.«
»Sie nehmen Ihre Arbeit also mit nach Hause?«, fragte Mike.
»Sie hatte damals die Wahl zwischen hier und einer billigen Absteige in der Bowery. Das arme Ding konnte nirgendwo hin. Ihre Familie wollte nichts von ihr wissen, im Studentenwohnheim bekam sie nach ihrer Verhaftung keinen Platz, und der Kerl, mit dem sie zusammengewohnt hat, schmiss sie raus –«
Wir hörten, wie die Tür geöffnet wurde. Eine brünette, durchtrainierte Mittfünfzigerin in einem hautengen Skioverall betrat die Wohnung. Sie sah in Wirklichkeit genauso kalt und unnahbar aus wie auf den Bildern, für die sie Modell gesessen hatte.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte sie und sah zwischen Kittredge und Mike hin und her.
Mike stand auf, um ihr die Hand zu geben. »Guten Tag, ich bin Mike Chap–«
»Der Herzog und die Herzogin von Windsor werden in Kürze gehen. Warte im Schlafzimmer«, sagte Kittredge und deutete mit dem Kopf auf eine Tür.
Die Frau sah uns noch einmal an und tätschelte dann seinen Arm, bevor sie an ihm vorbei das Zimmer verließ.
»Wir interessieren uns für ihren Freund«, sagte Mike, auch wenn ich wusste, dass er sich jetzt mindestens ebenso für den aufmüpfigen Kittredge interessierte wie für Emilys alten Beau. »Was wissen Sie über ihn?«
»Nichts. Ich habe ihn nie kennen gelernt.«
»Was hatten Sie mit der Anzeige gegen Emily zu tun?«
»Nichts. Mit ihrer Verhaftung wegen Ladendiebstahls hatte ich gar nichts zu tun. Ich
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