Im Saal der Toten
gehen, wenn ich ihm alles erzähle?«
»Wenn es die Wahrheit ist, ja.«
Nachdem Yolanda hinter ihrer Schwester das Büro verlassen hatte, nahm Stewart die Akte von mir in Empfang. »Ich hatte keine Ahnung, dass man von einer MetroCard alle diese Auskünfte bekommt.«
»Bei uns lernen Sie nie aus.« Ryan blinzelte mir zu. »Laquon und Yolanda – wahre Liebe, nicht wahr, Alex? Den Trick mit der Tasche kannte ich auch noch nicht.«
»Junge Mädchen tragen ihr halbes Leben in ihrer Handtasche mit sich herum. Je älter sie werden, desto mehr findet man darin. Pillen, Kondome, Tagebücher, Waffen, Liebesbriefe. Ich habe schon mehr Fälle mit einem Blick in die Handtasche gelöst als mit dem, was ich im Jurastudium gelernt habe. Die kleine Yolanda ist wahrscheinlich auf dem besten Weg, eine Prostituierte zu werden.«
»Das behauptet Laquon auch.«
»Wenn sich die Informationen von den Verkehrsbetrieben eher mit seiner Geschichte decken und sie immer noch nicht klein beigibt, dann bringt sie noch einmal her und wir funken ein paar ihrer Eroberungen an. Mal sehen, was die uns über sie erzählen können.«
Jede MetroCard hat eine zehnstellige Seriennummer, mit deren Hilfe bei jeder Entwertung ein Fahrtenbericht erstellt wird. Ich würde auf sechs Minuten genau erfahren, wann und wo sie in die U-Bahn eingestiegen war und wie hoch ihr verbleibendes Guthaben war. Mit Hilfe des Fahrscheins könnten wir beweisen, dass sie gelogen hatte.
Ich brachte Ryan und Stewart zur Tür und erkundigte mich bei Laura, ob jemand angerufen hatte.
»Mike hat gerade angerufen. Scotty Taren ist immer noch drüben in der Sixth Avenue. Sieht so aus, als hätte Dr. Ichiko der Polizei ein Schnippchen geschlagen, um sich das Beste für sein Fernsehdebüt aufzusparen. Er ist heute nicht zur Arbeit erschienen.«
17
Um ein Uhr kam Mercer mit Annika Jelt in mein Büro, damit wir ihre Aussage vor der Grand Jury vorbereiten konnten. Die junge Studentin saß im Rollstuhl und wurde wegen ihres nach wie vor fragilen Zustands von einem Pfleger begleitet.
Der Pfleger hielt ihre Hand, während sie den Angriff in allen Einzelheiten schilderte. Ihr Englisch war hervorragend, und sie sprach leise, aber bestimmt. Laut Annika war der Angreifer urplötzlich wie aus dem Nichts vor ihrer Haustür aufgetaucht. Wie die anderen Opfer hatte auch sie keine Ahnung, ob er ihr bereits eine Weile gefolgt war.
Es dauerte fast eine Stunde, um von Annika alle Details zu erfragen, und eine weitere Viertelstunde, ihre Zeugenaussage vor der Grand Jury zu präsentieren. Es war eindeutig, dass allein ihr Widerstand im Treppenhaus dazu führte, dass der Täter mit dem Messer auf sie eingestochen hatte.
Mercer schob sie wieder in mein Büro, um ihren Mantel zu holen und sie dem Pfleger zu übergeben.
»Es ist schön zu sehen, wie schnell Sie sich erholt haben und wie kräftig Sie schon wieder sind«, sagte ich. »Ich weiß, dass Sie noch einen langen Weg vor sich haben, Annika, aber der Anfang ist Ihnen großartig gelungen. Wissen Sie schon, wann Sie nach Hause fliegen?«
»Sobald mir die Ärzte grünes Licht geben. Es ist ein langer Flug, und die Kabinenluft ist nicht gut für meine Lungen. Aber Sie rufen mich an, wenn Sie den Kerl schnappen, versprochen?«
»Die Stadt New York wird Ihnen das Flugticket bezahlen, damit sie Ihre Zeugenaussage machen können, und ich werde Ihr persönlicher Geleitschutz sein«, sagte Mercer.
»Darf ich Sie etwas fragen?«, sagte Annika. »Eine der Krankenschwestern hat mir ein Fahndungsposter gezeigt.«
Nachbarschaftsgruppen hatten die Fahndungszeichnung kopiert und sie in Läden, Geschäften und Büros auf der Upper East Side verteilt.
»Was ist damit?«
»Auf dem Poster ist eine der Zeichnungen abgebildet, die mir Detective Wallace letzte Woche gezeigt hat. Sie sieht genauso aus wie … wie der Mann, der mir das angetan hat. Aber was unter dem Bild steht, na ja …«
»Scheuen Sie sich nicht«, sagte ich. »Wenn Ihnen etwas aufgefallen ist, dann können Sie es uns sagen.« Manche Leute waren gut darin, Größe oder Gewicht zu schätzen. Manche erinnerten sich daran, wie sich Barthaare anfühlten, die anderen nicht einmal aufgefallen waren, wieder andere bemerkten winzige Narben oder Hautunreinheiten.
»Auf dem Poster steht, dass der Mann Afroamerikaner ist«, sagte Annika.
Mercer setzte sich der Zeugin gegenüber und sah ihr in die Augen. »Sie haben mir gesagt, dass es ein Schwarzer war.«
»Natürlich, ja. Vielleicht hat
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