Im Saal der Toten
Seelenklempner zugestoßen ist. Wohin fahren wir?«
Mike legte den Gang ein und fädelte sich in den Verkehr. »Zur Schlucht.«
»Zur was?«
»Zur Bronx-River-Schlucht.«
»Nie gehört«, sagte ich. Im ruhigen Abendverkehr legten wir die Strecke quer durch die Stadt zur Triborough Bridge und den Major Deegan Expressway hinauf zügig zurück.
»Warst du noch nie im Botanischen Garten?«
»Das letzte Mal als Kind.« Ich war in einem Vorort nördlich der Stadt aufgewachsen, und meine Mutter hatte mich manchmal zu den herrlichen Rosenschauen im Frühjahr und den von ihr so geliebten saisonalen Orchideenausstellungen mitgenommen.
»Die Schlucht befindet sich auf dem Gelände des Botanischen Gartens. Der Fordham-Campus liegt direkt gegenüber.«
»Ich kenne nur die Gewächshäuser und –«
»Vergiss die Blumentöpfe, Coop. Die Schlucht ist Teil des Flusses. Weißt du, dass der Bronx River der einzige Süßwasserfluss in New York City ist?«
»Was ist mit dem Hudson? Oder dem East River?«
»Das sind den Gezeiten ausgesetzte Flussmündungen, Coop. Du solltest besser auf deine Umgebung achten.«
Auf der Fahrt erzählte mir Mike von der Frühgeschichte der Gegend. Nach ihrer Entdeckung durch Henry Hudson und ihrer Übernahme durch die niederländische Westindienkompanie, die sie in Neu-Niederlande umtaufte, kam es häufig zu gewaltsamen Zusammenstößen mit ansässigen Indianerstämmen.
»Als Staatsanwältin hättest du in den 1640er Jahren hier gut zu tun gehabt.«
»Warum?«
»Schon mal von Anne Hutchinson gehört?«
»Klar. Sie wurde von den Puritanern aus Massachusetts vertrieben. Sie flüchtete mit einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter wegen religiöser Intoleranz in diese Gegend.«
»Ganz genau. Aber Häuptling Wampage hat ihr den Mord an einigen seiner Leute recht übel genommen. Er ist zu Hutchinsons Haus und hat ihr mit dem Tomahawk den Schädel gespalten. Er skalpierte sie und ihre Kinder.«
Als wir den Bronx-River-Park erreichten, wusste ich von den großen Militärgefechten, die hier stattgefunden hatten, von den Festungen an der King’s Bridge während des Revolutionskrieges und der Schlacht von Pell’s Point.
An der Einfahrt zum Park, der schon lange geschlossen hatte, zückte Mike seine Dienstmarke. Ein uniformierter Wächter öffnete das Tor, zeigte in Richtung Süden und sagte, dass wir nach etwa einer halben Meile die Spurensicherung und ein paar Parkbedienstete sehen würden.
Der riesige, dunkle Park, durch den wir jetzt fuhren, hatte keine Ähnlichkeit mit den sonnendurchfluteten Gärten und der bunten Blumenpracht, an die ich mich aus meiner Kindheit erinnerte. Nur vereinzelte Straßenlaternen beleuchteten die von hohem, dichtem Baumbewuchs gesäumte Straße. Lange Schatten tanzten im Licht unserer Scheinwerfer und ließen die weitläufige Parkanlage unheimlich wirken.
Nachdem wir circa eine halbe Meile auf der kurvigen Straße zurückgelegt hatten, sahen wir Hal Sherman, der uns zuwinkte und herbeikam, um mir die Autotür aufzuhalten.
»Du warst wahrscheinlich nie bei den Pfadfindern, Chapman«, rief er über meinen Kopf hinweg, »aber wenn du mich noch länger hier behalten willst, musst du vielleicht ein paar Holzstöcke aneinander reiben und ein Feuerchen machen. Lange halte ich es bei dieser Kälte nicht mehr aus.«
»Ist der Doktor dort drinnen?«, fragte Mike und zeigte auf den Krankenwagen, der am Straßenrand stand.
»Kein hübscher Anblick.«
Mike signalisierte mir, ihm nicht zu folgen. Er ging zu dem offen stehenden Wagen und sagte etwas zu den beiden Sanitätern, woraufhin sie den Reißverschluss des Leichensacks öffneten. Er knipste die Taschenlampe an und besah sich Kopf und Oberkörper des Toten.
»Sieht aus, als hätte er zehn Runden mit Mike Tyson geboxt.« Er drehte sich wieder zu uns um. »Wer behauptet, dass das ein Selbstmord war?«
Hal zuckte die Achseln. »Es war mit Sicherheit kein Raubüberfall. Dafür gibt es zwischen seinem Haus in Riverdale und seiner Praxis im Village genug dunkle Gässchen. Glaubst du, dass ihn ein Mitglied des Eisbärenclubs hierher gebracht hat, um ihn in dem Eiswasser über den Jordan zu schicken? Seine Frau sagt, dass er die ganze Nacht nicht schlafen konnte, weil seine Entscheidung, den Namen der Patientin in dieser lausigen Fernsehshow bekannt zu geben, auf so heftige Kritik gestoßen war. Er wollte endlich einmal im Rampenlicht stehen, aber als ihm die beruflichen Konsequenzen dieser Dummheit bewusst wurden, wollte er sich
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