Im Saal der Toten
McKinney?«
McKinney verbrachte zu viel Zeit am Schreibtisch mit Verwaltungsaufgaben, um die Dinge zu kennen, mit denen wir Staatsanwälte und die Cops jeden Tag bei Zeugenvernehmungen konfrontiert waren.
»Was meinen Sie damit, Mr Guidi?«
»Als ich das erste Mal Crack rauchte, dachte ich, ich hätte mein Nirwana gefunden. Ich wollte es immer wieder tun, noch in der gleichen Nacht und in allen darauf folgenden Nächten. Ich hatte ein Gefühl der Freiheit, wie ich es noch nie zuvor gekannt hatte – kein Druck, keine Angst, nur ein angenehmes sinnliches Gefühl. Wie jeder Suchtmensch glaubte ich, meinen Umgang mit der Droge kontrollieren zu können. Leugnen funktioniert bei Crack genauso gut wie bei Alkohol.«
»Und Aurora war die ganze Zeit an Ihrer Seite?«
Guidi schnaubte und lachte. »Nein. Sie war nur die Sirene, die mich zu den Klippen lockte.«
»Entschuldigung, welche Sirene?«
So prosaisch wie er war, dachte McKinney zweifellos an eine Polizeisirene, nicht an die legendären Frauen aus der griechischen Sage, deren Gesang unvorsichtige Seefahrer in den Tod locken konnte.
»Sie war ein eiskalter Junkie und finanzierte ihre Sucht dadurch, dass sie Drogen verkaufte. Sie hatte die perfekte Nische gefunden, Mr McKinney. Sie richtete sich mitten im Greenwich Village ein und trieb sich auf dem Campus, auf Partys und in Bars herum, um Kerle wie mich zu finden – reiche Schnösel mit großzügigem Taschengeld, um sich davon Bücher und Klamotten zu kaufen oder ein Mädchen auszuführen. Nur habe ich es nie bis zum Buchladen geschafft. Es dauerte keine zwei Wochen, nachdem ich sie kennen gelernt hatte, und ich war süchtig. Sie ließ mich mit der kostspieligen Sucht sitzen und schmiss sich sofort an den nächsten Kerl.«
»Wie erging es Ihnen danach?«
»Ungefähr eineinhalb Jahre später hatte ich ein sehr ernüchterndes Erlebnis. Ich trieb mich um vier Uhr morgens auf der verzweifelten Suche nach Crack auf der Avenue C herum und lief dabei in ein offenes Klappmesser. Ich wurde ins Bellevue Hospital eingeliefert und wachte erst drei Tage später aus dem Koma auf. Während meiner Rekonvaleszenz war mein behandelnder Psychiater Dr. Wo-Jin Ichiko. Er überwachte meine Entgiftung und meinen Entzug. Dann empfahl er mir SABA, das Therapieprogramm an der Uni.« Guidi hielt inne und warf seinen Zigarettenstummel in den Kaffeebecher. »Der Typ hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet. Aber heute hätte ich ihn, ehrlich gesagt, umbringen können.«
»Warum?«
»Weil ich zwei Jahrzehnte lang versucht habe, die Scherben wieder zu kitten. Ich habe eine sehr verständnisvolle Frau, die ich vor fünfzehn Jahren kennen gelernt habe. Ich hatte damals während der Drogengeschichte das Studium geschmissen, also musste ich noch einmal ganz von vorne anfangen. Ich arbeitete in der Versandstelle von Crédit Suisse , bis ich genug Geld gespart hatte, um wieder an die Uni gehen zu können. Meine Kinder haben keine Ahnung, dass ich fast drei Jahre lang wie ein Penner gelebt und alle meine Privilegien aufs Spiel gesetzt habe. Dabei würden sie es sicher noch um einiges besser verstehen und akzeptieren als meine Kollegen und Klienten.«
»Wann haben Sie Dr. Ichiko das letzte Mal gesehen?«, fragte McKinney.
»Vor neunzehn, zwanzig Jahren.«
»Und Sie haben seitdem auch nicht mit ihm gesprochen?«
Guidi klopfte die nächste Zigarette aus der Packung und zündete sie an. »Doch. Gestern Abend. Ich habe ihn zu Hause angerufen.«
»Sie hatten seine Privatnummer?«
»Nein. Ich rief in seiner Praxis an, und dort meldete sich sein Anrufdienst. Ich sagte, dass ich bei ihm in Behandlung sei und dass es sich um einen Notfall handle, also hat man mich zu ihm durchgestellt.«
»Haben Sie mit ihm gesprochen?«
»Nachdem ich mich ausgetobt hatte, könnte man es wohl so nennen.«
»Was haben Sie zu ihm gesagt?«
»Ich habe ihm jedes erdenkliche Schimpfwort an den Kopf geworfen. Ich hatte immer geglaubt, dass es so etwas wie eine ärztliche Schweigepflicht gäbe. Es war mir ein Rätsel, warum er im Fernsehen den Namen einer Person preisgeben wollte, die er vor Jahren behandelt hatte. Diese Art von Publicity brauche ich nicht – weder privat noch beruflich.«
»Warum waren Sie so um Aurora Tait besorgt?«, fragte McKinney.
»Das war ich nicht«, antwortete Guidi. »Aber wenn sich ein Arzt von einer Fernsehshow dafür bezahlen lässt, Auroras Namen öffentlich zu machen, was sollte ihn dann daran hindern, auch unsere Namen
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