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Im Saal der Toten

Im Saal der Toten

Titel: Im Saal der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Fairstein
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oben gingen.
    »Mir wird schon was einfallen. Folg einfach meinem Beispiel.«
    Tormeys Büro – Nummer 326 – war leer, aber aus einem kleinen Hörsaal nebenan war die Stimme des Dozenten zu hören. Ich signalisierte Mike, stehen zu bleiben und zuzuhören. Laut dem Belegplan neben der Tür fand gerade eine Vorlesung von Professor Tormey statt. Ungefähr dreißig Studenten lümmelten in den Stühlen, nur circa eine Hand voll schrieb eifrig mit.
    »Bei Coleridges Biograpbia Literaria handelt es sich um das bedeutendste Werk der Literaturkritik. Darin findet sich alles, was man bei der Betrachtung eines Gedichtes beachten muss; es erleichtert den Zugang zu Poesie und hilft einem, ein Verständnis für Lyrik zu entwickeln. Er schrieb es, weil er das Werk seines engen Freundes William Wordsworth für die größte dichterische Leistung seiner Zeit hielt.«
    »Stimmt es, was der Heini da von sich gibt?«, fragte mich Mike im Flüsterton.
    »Absolut.«
    Ich blickte wieder in den Hörsaal und sah, dass kaum jemand zuhörte.
    »Coleridge verwendet das Wort fancy – Phantasie – zur Beschreibung einer Form der Erinnerung. Ein Dichter braucht natürlich Phantasie, aber sie ist nur reproduktiv, sie ist sein Vorrat an Bildern, so wie es das Gedächtnis für jeden von uns ist. Imagination hingegen – Einbildungskraft –, das ist die produktive, die schöpferische Bildungskraft. Sie ist allen großen Dichtern zu eigen und –«
    Ein Klingelton signalisierte das Ende der Vorlesung, und bis auf zwei junge Frauen, die buchstäblich an Tormeys Lippen hingen, klappten alle ihre Notizblöcke zu und verließen den Saal.
    Der Professor, ein bebrillter Mittfünfziger mit einem beträchtlichen Bäuchlein und sprödem braunem Haar, kam mit den beiden jungen Studentinnen aus dem Hörsaal und erklärte ihnen Coleridges Unterscheidung von primärer und sekundärer Einbildungskraft.
    »Entschuldigen Sie, Sir, sind Sie Professor Tormey?«, fragte Mike.
    Der Mann nickte.
    »Hätten Sie ein paar Minuten Zeit für uns? Vielleicht in Ihrem Büro?«
    Er legte den Kopf schief. »Sind Sie von der Verwaltung?«
    Mike wartete, bis die Studentinnen ihre Blöcke in ihren Rucksäcken verstaut hatten und davongestiefelt waren. »Polizei.«
    Tormey runzelte die Stirn und führte uns in sein kleines Büro. Er knipste das Licht an, schloss die Tür und bat uns Platz zu nehmen. Dann schob er drei gelbe Rosen, die auf seinem Schreibtisch lagen, zur Seite und legte seine Vorlesungsnotizen vor sich ab. »Worum geht’s?«
    »Wir ermitteln in einem Vermisstenfall.« Leute waren in der Regel kooperativer, wenn man ihnen nicht sofort sagte, dass sie eventuell in eine Mordermittlung verwickelt waren. Oder zwei.
    »Ein Student?« Sein rechter Mundwinkel zuckte.
    »Eine NYU-Studentin.«
    »Ich habe seit über zehn Jahren nichts mehr mit der NYU zu tun.«
    »Tait. Aurora Tait. Sagt Ihnen der Name etwas?«
    »Nein. Nein, tut mir Leid.« Das Zucken war entweder chronisch, oder Mikes Fragen machten ihn nervös.
    »Sie verschwand vor über zwanzig Jahren aus der Gegend um den Washington Square.«
    »Was hat das mit mir zu tun?« Er sah abwechselnd zwischen uns hin und her.
    »Vielleicht können Sie uns sagen, warum Sie die NYU verlassen haben und jetzt am Bronx Community College tätig sind«, sagte Mike.
    Tormey zuckte und lachte. »Sogar ein Anfängercop wäre intelligent genug, um zu kapieren, dass ich nicht aus freien Stücken gewechselt habe. Ich habe bestimmte Grenzen überschritten, Mr Chapman. So hat es der Dekan damals genannt, wenn ich mich recht erinnere.«
    »Mit einer Studentin?«
    »Mit … mit ein paar Studentinnen«, sagte Tormey und spielte mit seinen Vortragsunterlagen. »Es passierte mehr als einmal, und die Universität war nicht gewillt, das zu tolerieren.«
    »Hatten Sie damals schon eine Anstellung auf Lebenszeit?«, fragte ich.
    »Ich war nahe dran, Miss Cooper. Das war ja das Schreckliche. Dort habe ich die motiviertesten und intelligentesten Studenten unterrichtet, die Sie sich vorstellen können. Hier, na ja, hier habe ich ein paar Träumer, die aus der Bronx herauskommen wollen, aber für die meisten ist Englisch nicht einmal ihre Muttersprache.«
    »Sie unterrichten nach wie vor englische Literatur?«
    »Englische und amerikanische. Zum Glück höre ich mich gern selber reden. Ich versuche ihnen etwas beizubringen. Mehr kann ich nicht tun.«
    »Sie hatten heute einen vollen Hörsaal.«
    »Das Semester hat gerade erst angefangen. Die Studenten

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