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Im Saal der Toten

Im Saal der Toten

Titel: Im Saal der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Fairstein
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Büste niederlegen. Die Studenten warten auf mich.«
    Der Professor musste meinen Seitenblick zu Mike bemerkt haben, als er den Namen des großen Schriftstellers erwähnte. Er spielte eine zu große Rolle in dieser Ermittlung, als dass es sich dabei um einen Zufall handeln könnte. Zuerst Aurora Taits Grabstätte, dann Emily Upshaws Angst, bei lebendigem Leib begraben zu werden.
    »Welche Büste? Worum geht es?«, fragte ich.
    »Heute ist der zweite Februar. Der Jahrestag der Beerdigung von Poes Frau Virginia. In Baltimore, wo die Poes begraben sind, legt ein geheimnisvoller Fremder jedes Jahr an Poes Geburtstag Rosen auf sein Grab. Poes Geburtstag, der neunzehnte Januar, fiel dieses Jahr in die Winterferien, also halten wir stattdessen heute eine kleine Zeremonie draußen bei der Statue ab.«
    »Von welcher Statue reden Sie?«, fragte ich erneut.
    »Von der in der Ruhmeshalle.«
    »Knöpf dich zu, Coop. Wir gehen spazieren.«
    Professor Tormey wirkte zum ersten Mal seit unserer Ankunft erleichtert. »Sie kennen die Büste, Mr Chapman?«
    »Ich habe am Fordham studiert.« Mike hielt uns die Tür auf.
    »Dann kennen Sie sich in der Gegend hier aus?«
    »Ein bisschen. Die Ruhmeshalle für große Amerikaner, richtig?«
    Tormey führte uns über eine Hintertreppe ins Erdgeschoss und durch eine Seitentür hinaus auf einen Weg, der sich an der Bibliothek und dem Philosophiegebäude entlangzog. Einige Dutzend Studenten säumten ungeachtet der Kälte mit Kameras und Kaffeebechern in der Hand die Strecke und begleiteten Tormey mit Zurufen.
    »Heutzutage sind Ruhmeshallen natürlich gang und gäbe: für Sportler und Sänger, Cowboys und Country-Music-Stars. Aber das hier war die allererste im Land.«
    »Wann wurde sie erbaut?«, fragte ich.
    »1901. Sie wissen wahrscheinlich, dass dieser Campus hier einmal der NYU gehörte. Eine Ironie des Schicksals, wenn ich das sagen darf. Der damalige Präsident der Uni ließ diesen fabelhaften Säulengang errichten, um von dem unansehnlichen Felsenuntergrund dieser herrlichen Gebäude abzulenken. Sie kennen doch sicher den Zauberer von Oz ?«
    »Natürlich«, sagte ich.
    Jetzt kam Leben in Tormey, und er machte einen leidenschaftlichen und einnehmenden Eindruck. »Erinnern Sie sich an das Lied der Munchkins, als Dorothy die Böse Hexe des Westens verschwinden lässt? ›Du wirst eine Büste, eine Büste, eine Büste in der Ruhmeshalle sein‹? Damit haben sie den Platz hier gemeint. Er war damals im ganzen Land berühmt.«
    Ich blickte mich um, während wir auf dem rot gepflasterten Weg zum Eingang gingen. Wir befanden uns auf einem Vorsprung über dem Expressway, und der steile Abhang unter uns war von kahlen Bäumen bewachsen. Ich war davon ausgegangen, dass sich eine Halle im Inneren eines muffigen alten Gebäudes befinden würde, aber hierbei handelte es sich um eine Freilichthalle mit einer großartigen Aussicht auf den knapp eine Meile entfernt liegenden Harlem River.
    »Was befindet sich jetzt hier?«, fragte ich.
    »Achtundneunzig Bronzebüsten, die bei prominenten Bildhauern und Künstlern in Auftrag gegeben wurden. Das Projekt wurde in den 1970er Jahren eingestellt, aber in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts war es eine große Sache.«
    »Warum interessieren Sie sich für Poe?«, fragte Mike, während wir mit Tormey Schritt zu halten versuchten, der sich für einen Mann seiner Statur erstaunlich schnell bewegte.
    »Er war ein Genie, Mr Chapman. Wahrscheinlich der größte amerikanische Schriftsteller aller Zeiten. Obwohl er nach meinem Geschmack ein bisschen zu freizügig bei Coleridge geborgt hat, spricht er die Kids hier auf eine Art und Weise an, wie es die Briten und die Romantiker nicht tun.«
    Ich nickte angesichts seiner Begeisterung für den Meister des Makabren.
    »Sie lieben das Bizarre, Grauenvolle, seine Obsession vom Tod. Der Dekan wollte, dass ich dieses wunderbare Wahrzeichen – die Ruhmeshalle – wieder zum Leben erwecke. Also habe ich diese kleinen Zeremonien für viele der großen alten Gentlemen kreiert, die hier in der Bronx Wache halten. Alles, was mit Poe zu tun hat, ist, wie Sie sehen können, bei den Studenten besonders beliebt. Seine Obsession vom Tod ist zeitlos.«
    Tormey zeigte auf die Worte, die in den Steinbogen über dem Eingang gemeißelt waren, der sich direkt hinter einem der ursprünglichen Gebäude befand: »Helden der Vorzeitberühmte Männer«. Er hielt uns das filigran geschmiedete Eisentor auf. Dahinter fiel der Blick

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