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Im Saal der Toten

Im Saal der Toten

Titel: Im Saal der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Fairstein
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zwischen den Säulen steil nach unten auf den Highway.
    Die Freilufthalle bestand aus einer Abfolge von zehn ineinander übergehenden, gewundenen Gängen. Die offenen, luftigen Wege waren beiderseits von Büsten und dazugehörigen Bronzetafeln gesäumt, die durch hohe weiße Säulen voneinander getrennt waren.
    Neben Namen, die jedes amerikanische Schulkind kannte, standen auch Büsten von längst vergessenen Helden. Der erste langgezogene halbkreisförmige Bogen war unter anderem Walter Reed, Robert Fulton und Eli Whitney und ihren Leistungen gewidmet. Dazwischen waren andere, deren Errungenschaften heute kaum noch bekannt waren: Matthew Fountaine Maury, Pfadfinder der Meere, und James Buchanan Eads, Erbauer des ersten U-Bootes nach dem amerikanischen Bürgerkrieg.
    Der Weg zog sich an der Außenwand des Gebäudes entlang und bog um die Ecke. Vor uns lag der nächste geschwungene Säulengang. Tormey schritt zügig aus und zeigte dabei mit seinem kleinen Rosenstrauß auf einzelne Figuren. Die Gebrüder Wright standen gegenüber von Thomas Edison und neben einem Physiker namens Josiah Willard Gibbs.
    »George Washington«, sagte Tormey und zeigte auf die Büste des ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten. »Er ist der Einzige, der jemals einstimmig hier verewigt wurde.«
    Mike blieb immer wieder stehen, um die Inschriften auf den Tafeln zu lesen. »Ein, zwei Stunden in dieser Halle, und ich bin die nächsten zwei Jahre für Jeopardy! bestens gerüstet.«
    Wir bogen um die nächste Kurve, und das Gebäude hinter uns wich einem Innenhof, auf dem die Studenten auf Tormey warteten. Nach Westen hin von kahlen grauen Zweigen umrahmt, waren Abraham Lincoln und Henry Clay für alle Ewigkeit gegenüber von Thomas Jefferson und Daniel Webster postiert.
    Um die nächste Ecke folgten Juristen wie John Marshall und Oliver Wendell Holmes, und dahinter begann ein weiterer Säulengang mit Kriegshelden: John Paul Jones, der Marquis de Lafayette – der einzige Nichtamerikaner, soweit ich das beurteilen konnte –, Robert E. Lee und Ulysses Grant. Mike blieb erneut stehen, um die Inschriften zu studieren.
    »Was für eine Sammlung!«, sagte ich beeindruckt.
    »Aber das ist mal wieder typisch, nicht wahr?«, sagte Tormey. »Schriftsteller und Künstler kommen ganz am Ende. Sogar Lehrer und Wissenschaftler werden zuerst gewürdigt.«
    Wir passierten die Pädagogen Maria Mitchell, James Kent, Horace Mann und Mary Lyon, bevor wir zu den großen Wortkünstlern kamen. James Fenimore Cooper und Harriet Beecher Stowe waren das erste Paar, das sich über den windigen Korridor hinweg mit ausdrucksloser Miene in die Augen sah.
    »Dort ist Ihr Mr Poe«, sagte Tormey und deutete auf eine ernst dreinblickende Büste, die hoch über der darunter liegenden Straße von Samuel Clemens alias Mark Twain und William Cullen Bryant flankiert wurde.
    »Welcher Bildhauer hat die Büste gemacht?«, fragte ich.
    »Der große Daniel Chester French.«
    Der Mann, der für seine massive Lincoln-Statue auf der Mall in Washington, D.C. bekannt war, hatte den Dichter in kleinerem Maßstab verewigt: mit ernstem Gesicht und dichtem gewelltem Haar, eine Westenschleife unter dem Kinn.
    Noah Tormey hob den Arm und schwenkte die drei Rosen, um die Aufmerksamkeit der Studenten auf sich zu ziehen. Wir blickten beide auf die Uhr. Er hatte sich nur um ein paar Minuten verspätet.
    Mit einer theatralischen Geste verneigte sich Tormey vor Poes Büste und legte die Blumen unter dem Beifall und Lachen der Studenten vor den Granitsockel. Ein Blitzlichtgewitter erhellte den düsteren Vormittagshimmel.
    Der Professor richtete sich auf und ergriff meinen Arm. In dem Moment krachten Gewehrschüsse durch den Wald, der sich unter uns den Abhang hinabzog. Ein Schuss prallte von Samuel Clemens’ Kopf ab und traf Noah Tormey in der Schulter. Er sackte zu Boden, und ich fiel neben ihm auf die Knie.

 

23
     
    Mike Chapman kam, meinen Namen rufend, um die Ecke gerannt.
    Tormey, dessen rechter Arm schlaff an seiner Seite hing, robbte auf dem linken Ellbogen zu mir.
    Mike hatte seine Waffe gezogen und drückte Tormey flach auf den kalten Boden. »Runter mit euch!«
    Im Hintergrund hörte ich die Schreie der Studenten, die in Panik auseinander stoben.
    Mike richtete sich vor Poes Bronzebüste auf und spähte den steilen Abhang hinunter.
    Durch Tormeys Jackenärmel sickerte Blut auf meine Hose, und er stöhnte vor Schmerz. Ich versuchte, mich unter ihm hervorzuziehen und

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