Im Saal der Toten
Barrett Browning, nicht gerade eine Unbekannte: »Mit sanftem, unentschlossenem Drängen in den purpurnen Behängen …«, und zitierte dann Poes berühmten Vers: »Und das seidig triste Drängen in den purpurnen Behängen …«
Ich gab Zeldin den Aufsatz zurück.
»Wie Sie sehen können, hat Mr Tormey kein gutes Haar an Poe gelassen. Die meisten meiner Kollegen haben das nicht auf die leichte Schulter genommen. Tormey wollte mit seinen Recherchefähigkeiten prahlen. Er schrieb, dass Edgar die Anmerkungen zu seinen Abhandlungen oft wortwörtlich aus Sekundärquellen übernahm, manchmal mehr oder weniger direkt aus der Enzyklopädie – so wie es ein Schuljunge tun würde.«
»Ist Poe jemals zu Lebzeiten mit diesen Vorwürfen konfrontiert worden?«, fragte ich.
»Dass es ihm an ethischen Grundprinzipien fehlte, wenn es um Literatur ging? In der Tat ja«, sagte Zeldin. »Das war mit ein Grund, warum er so verzweifelt war. Nachdem ihn seine Kritiker des Plagiarismus bezichtigten, wurde er von einigen der wichtigsten literarischen Salons New Yorks ausgeschlossen.«
»Kein Wunder, dass seine Figuren so oft Rache nehmen«, sagte ich. »Der arme Mr Poe muss des Öfteren davon geträumt haben.«
»Mit Sicherheit. Natürlich hat er es an Kollegen ausgelassen, Miss Cooper. Er hat alles persönlich genommen. Haben Sie jemals seine Literaturkritiken gelesen?«
Ich verneinte.
»Er hat sich darin mit vielen seiner Zeitgenossen angelegt – in der Hinsicht war er ziemlich gnadenlos.«
»Mit wem zum Beispiel?«, fragte ich.
»Für Longfellow hatte er nur Verachtung übrig. Er hasst ihn mindestens ebenso sehr wegen seiner Frau, einer reichen Erbin, deren Reichtum es ihm ermöglichte, private Werkausgaben zu veröffentlichen, wie wegen seiner mittelmäßigen Gedichte. Auch auf William Cullen Bryant und Washington Irving war er nicht gut zu sprechen. Die Liste ist endlos.«
Ich dachte an die Ruhmeshalle. Hätte sie bereits zu Poes Zeit existiert, hätte er an den Büsten wohl selbst gern seine Schießkünste geübt.
»Warum hat sich Ihr Verein dann so aufgeregt?«, fragte Mike. »Ich meine, wenn diese Kritik nicht das erste Mal vorgebracht wurde.«
»Unsere Mitglieder wollen Caesar ehren, nicht begraben, wenn ich es so ausdrücken darf. Wir zelebrieren Poes Genie und Originalität, die seine jugendlichen Fehltritte mehr als wettmachen. Wir bewundern den Meister und sind äußerst kollegial. Wir wollten nicht, dass Mr Tormey diese Dinge noch einmal in den Mittelpunkt rückte. Keiner wollte den jungen Professor deswegen umbringen, aber –« Zeldin hielt inne. »Entschuldigen Sie bitte, ich sollte mich in Ihrem Beisein nicht so ausdrücken. Am Ende nehmen Sie mich noch beim Wort. Wir wollten Tormey einfach nicht dabeihaben. Er kannte die Gedichte, aber er liebte den Dichter nicht so uneingeschränkt wie wir.«
»Da wir gerade von nachtragend sprechen«, sagte Mike. »Ihr Verein ist ganz schön hart. Haben Sie in letzter Zeit von Mr Tormey gehört?«
Den Morgenzeitungen war die gestrige Schießerei an der Ruhmeshalle kaum eine Erwähnung wert gewesen. Schließlich war sie in der Bronx passiert, und was die Polizeireporter anging, hätte das genauso gut in Sibirien sein können. Ein Dreifachmord in einem der Außenbezirke erntete bestenfalls einen Absatz in der Times und eine Meldung auf den ersten zehn Seiten der Boulevardzeitungen. Es gab keinen Grund, dass Zeldin von dem Attentat gehört hätte.
»Nein. Gar nichts.«
»Sind die Leute hier auf der letzten Seite alle aus ähnlichen Gründen auf der Liste aufgeführt?«, fragte Mercer.
»Mehr oder weniger, Detective. Manche sind keine ernsthaften Wissenschaftler, andere können sich den Mitgliedsbeitrag nicht leisten. Warum fragen Sie?«
Mercer zögerte.
»Ach, Sie meinen, ob sie gefährlich sind? Sie denken, dass vielleicht jemand von uns die Frau im Village umgebracht hat?«, sagte Zeldin. »Unwahrscheinlich. Das einzige Mal, dass wir mit einem Verbrechen zu tun hatten – Phelps, sind Sie da? Wann war die Schießerei?«
Der Parkverwalter erschien wieder im Türrahmen. »Am Haupttor? Das muss fast zehn Jahre her sein.«
»Was hatte das mit Ihrem Verein zu tun?«, fragte Mike.
»Es gab da einen Detective, mit dem ich ein paar Mal telefoniert hatte. Ich erinnere mich nicht mehr an seinen Namen. Er wollte sich unbedingt mit mir treffen.«
»Wegen des Rabenvereins?«
»Aber nein. Ich bezweifle, dass er von unserer Existenz wusste. Er interessierte sich für
Weitere Kostenlose Bücher