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Im Saal der Toten

Im Saal der Toten

Titel: Im Saal der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Fairstein
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Gefängniszelle. Es deprimierte mich, an die letzten Tage der jungen Virginia zu denken. Jetzt konnte ich besser verstehen, welch große Melancholie den Dichter überkam, während seine Frau im Sterben lag.
    »Hier gibt es nicht einmal einen Kamin«, sagte ich. »Wie konnte sie überhaupt den Winter überstehen?«
    »Es existieren Briefe von Freunden, die Poe und seine Frau in jenen Monaten besucht haben. Edgar hatte sie unter der dünnen Bettdecke in seinen Mantel eingewickelt. Die bittere Kälte hat aber sicherlich ihren Tod beschleunigt.«
    Hinter mir, in der Ecke, war ein Duplikat der Bronzebüste, die auch in der Ruhmeshalle stand. Mike deutete auf eine Wandtafel neben der Statue, auf der die gebürtigen Bronxer aufgelistet waren, die sich für die Erhaltung des Cottage einsetzten. Gino Guidis Name stand in großen Lettern an erster Stelle. Ich erkannte noch ein paar andere, die über das Viertel hinaus bekannt geworden waren: Modedesigner wie Ralph Lauren und Calvin Klein, aber auch bekannte Richter und Anwälte wie Justin Feldman, Roger Hayes und die Gebrüder George und Burton Roberts.
    Gegenüber vom Schlafzimmer führte eine schmale Treppe hinauf in den ersten Stock.
    »Sie müssen einzeln nach oben gehen«, sagte Bailey. »Für drei Leute ist die Treppe zu eng.«
    Ich ging als Erste nach oben, wo sich zwei weitere kleine Räume befanden – in dem einen schlief Poe, wenn er nicht am Bett seiner Frau wachte, und in dem anderen wohnte Virginias Mutter, auch noch nach dem Tod ihrer Tochter und ihres Schwiegersohns. Die schiefe Decke hing tief, und eine Dachgaube auf den Park hinaus war die einzige Lichtquelle. Ich hielt mich am Geländer fest und ging wieder nach unten. Mike und Mercer warteten an der Eingangstür, und ich folgte unserer kundigen Führerin.
    »Also waren sie trotz seines Erfolgs noch immer ziemlich arm?«, fragte ich.
    »Bettelarm«, sagte Bailey. »In einem Brief an einen Freund klagte er darüber, dass sie sich nicht einmal Schuhe oder –«
    Da ertönte ein markerschütternder Schrei vom anderen Ende des Parks.
    »Hilfe! Hilfe!« Es klang wie die Stimme eines Kindes oder Jugendlichen.
    Mike, Mercer und Kathleen Bailey liefen aus dem Haus und rannten zum Spielplatz. Ich blieb einige Sekunden auf der Veranda stehen und überlegte, ob ich das Cottage unbewacht lassen könne.
    Auf dem Bürgersteig bildete sich eine Menschentraube; manche Passanten gingen neugierig in Richtung Spielplatz, während andere ihre Kinder an der Hand packten und in den Seitenstraßen verschwanden.
    Ich ging ein paar Schritte den Weg hinunter und sah abwechselnd zum Haus und zur Menschenmenge, um notfalls Mike und Mercer zu Hilfe zu eilen.
    Da sah ich plötzlich, wie ein älterer Junge hinter den Schaukeln vorbei um die Orchestermuschel herumlief und dann auf der Kingsbridge Road im Verkehr verschwand.
    »Schnappt ihn euch!«, schrie die Stimme wieder.
    Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um Mike und Mercer in der Menschenmenge ausfindig zu machen. Als ich hinter mir ein Geräusch hörte, war es schon zu spät, um mich umzudrehen. Ich spürte einen Schlag gegen den Hinterkopf und verlor das Bewusstsein.

 

31
     
    Der Schmerz war so heftig, dass ich es nicht ertragen konnte, meine Augen zu öffnen, als ich wieder zu mir kam. Ich versuchte Luft zu holen, aber ich hatte etwas im Mund, an dem ich fast erstickte, sobald ich einatmete.
    Weitaus schlimmer als der Schmerz war meine Angst. Ich lag in einer Kiste, die kleiner als ein Sarg war. Ich brauchte nichts zu sehen. Ich spürte die Holzbretter um mich herum und wusste, dass ich nicht genug Platz hatte, um den Kopf zu heben.
    In meiner Panik gelang mir genau das, was am wichtigsten gewesen wäre, am wenigsten: nämlich ruhig zu atmen und mit dem wenigen Sauerstoff, den ich zur Verfügung hatte, zu haushalten.
    Langsam öffnete ich ein Auge. Ein stechender Schmerz schoss quer durch meine Stirn und ließ vor meinen Augen kleine Lichtblitze entstehen. Über mir waren mehrere Bretter, durch deren Schlitze graues Tageslicht drang.
    Dem Himmel sei Dank! Ich lag nicht unter der Erde. Ich war nicht lebendig begraben.
    Ich atmete tief ein und schnupperte dabei die Luft. Es roch nach feuchtem Holz, die Bretter unter mir waren nass und kalt.
    Ich schloss die Augen und wartete, bis sich die tanzende Sternchen vor meinen Augen etwas beruhigt hatten.
    In der Nähe hörte ich Straßenlärm. Motorengeräusche und Autohupen, dann in der Ferne Polizeisirenen. Ich hörte Frauenstimmen

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