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Im Saal der Toten

Im Saal der Toten

Titel: Im Saal der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Fairstein
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hier ankam, gehörte das alles Lorillard, habe ich Recht, Phelps?«
    »Ja, Sir.«
    »Sinclair ist schon genauso lange hier wie ich. Dank seiner Verschwiegenheit konnte ich den Unterlagen des Vereins ein Zuhause geben.«
    »Sie haben auch eine Schwäche für Poe?«, fragte Mike.
    »Nein, Sir. Nicht besonders. Aber ich mag Zeldin. Und die Mühle ist zu schön, um sie nicht zu nutzen«, sagte Phelps mit ernster Miene. Seine wettergegerbte Haut sah aus, als würde sie wie eine Eierschale aufbrechen, falls er das Gesicht verzog.
    »Hier wurde tatsächlich Tabak verarbeitet?«, fragte ich.
    »Ja«, sagte Phelps. »Der Wasserfall, den Sie anderntags gesehen haben, hat im achtzehnten Jahrhundert die Tabakmühle angetrieben. Nur aus dem Grund konnte das Geschäft der Lorillards hier oben florieren. Es ist der einzige Wasserfall in New York City. Die ersten Pflanzungen in dieser Gegend waren Rosengärten. Angeblich, weil die Rosenblätter den Tabak geruchlich verfeinern.«
    »Wer hätte das gedacht? So schlecht wie die Bronx sonst immer wegkommt!«, sagte Mike. »Was ist dort drüben?«
    Die Straße machte eine Kurve, und zu unserer Rechten war ein riesiges, weiß gestrichenes viktorianisches Gebäude, in dessen unzähligen Fensterscheiben sich der blaue Himmel und die seltene Februarsonne spiegelten.
    »Das ist unser Gewächshaus«, sagte Zeldin. »Es ist der größte Kristallpalast in Amerika. Sie müssen wiederkommen, damit wir es Ihnen zeigen können. Darin befinden sich elf Treibhäuser mit den exotischsten Pflanzen der Welt.«
    »Ein ziemlich spektakuläres Gewächshaus«, sagte Mike.
    »Das erste – das Palmenhaus im Londoner Kew Gardens – wurde für Königin Victoria und ihre Gärten erbaut. Man wollte alle möglichen tropischen und seltenen Pflanzen unter einem Dach vereinen. Ein herrlicher Anblick, nicht wahr?«
    »Ich war als Kind öfter hier, aber ich dachte, es wäre geschlossen worden«, sagte ich.
    »Es wurde erst vor ein paar Jahren wieder eröffnet, nachdem man es für fünfundzwanzig Millionen Dollar restauriert hatte. Dieses Glanzstück wurde 1901 erbaut. Damals sind einige dieser Dinger gebaut worden – am berühmtesten war wohl der Kristallpalast auf der Weltausstellung in Chicago. Sie sind groß, aber extrem fragil.«
    Das Herzstück des Gebäudes war die von einer Kuppel überdachte Rotunde, von der zu beiden Seiten lange gläserne Flügel abgingen.
    »Das Gebäude hat eine Ausstellungsfläche von viertausend Quadratmetern«, sagte Zeldin. »Jede einzelne dieser siebzehntausend Glasscheiben ist eine Spezialanfertigung für das geschwungene Eisengerüst.«
    Wir fuhren durch die riesige Anlage, die erst in ein paar Monaten wieder in voller Pracht erblühen würde. Nach wenigen Minuten hatten wir die Gebäude hinter uns gelassen und durchquerten eine weitläufige Landschaft, die eher den Ausläufern der Berkshires als einem städtischen Park ähnelte. Vor uns erstreckte sich, so weit das Auge reichte, ein dichter Wald, der noch genauso unheimlich wirkte wie vorgestern Nacht.
    »Ab in den Wald?«, fragte Mike.
    »Das ist der einzige noch existierende Urwald in New York City«, sagte Phelps.
    »Ich wusste nicht einmal, dass es einen gibt.«
    »Zwanzig Hektar groß. Es ist ein gemischter Hartholzwald. So hat die Bronx ausgesehen, als die ersten Europäer hierher kamen«, sagte er.
    »Was sind das für Bäume?«
    »Hiawatha und seine Schierlingstannen«, sagte Zeldin. »Erinnern Sie sich nicht an Longfellows Gedichte, Miss Cooper? Die Schierlingstanne ist die verbreitetste Baumart in diesen flachen Hügeln der Bronx, alle noch existierenden Exemplare befinden sich hier.«
    »Hat Poe –«, begann Mercer.
    Zeldin ließ ihn nicht zu Ende sprechen. Es machte ihm sichtlich Spaß, sein einzigartiges Wissen über Poe und die örtliche Flora zur Schau zu stellen. »Die Schierlingstanne kommt nur in einer Erzählung vor, in einer Geschichte mit dem Titel ›Morella‹. Aber in seinen Briefen schrieb er oft über seine Spaziergänge in dieser Gegend.«
    Wir fuhren über eine Brücke und blieben vor einem hübsch restaurierten zweistöckigen, efeubewachsenen Steinhaus aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert stehen.
    Das einzige Geräusch in der Stille des schneebedeckten Waldes war das Rauschen des Flusses direkt unter uns.
    Phelps öffnete die Hecktür des Behindertenbusses und ließ Zeldins Rollstuhl die Rampe herab. Wir folgten ihnen zu einer dunkelgrünen Holztür an der flusswärts gelegenen Rückseite des

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