Im Saal der Toten
des zwanzigsten Jahrhunderts elegante Wohnhäuser gestanden hatten, waren jetzt düster aussehende Mietskasernen, deren Türen und Fenster mit Metallrollläden verschlossen waren, wie man sie auch in der Dritten Welt überall sah. Immer neue Einwanderer strömten in dieses Viertel, bevor sie sich in die Vorstädte absetzten, sobald sie es zu etwas gebracht hatten. Jetzt waren alle Schilder in Spanisch, von »Pepito’s Papayas« bis zu »Miguel’s Fritas«, das Ganze war von einem riesigen Billboard gekrönt, von dem J. Lo in hautenger Jeans herablächelte.
Direkt am Concourse, von einem gusseisernen Zaun eingezäunt, befand sich eine ungefähr zwei Straßenzüge lange kleine Oase. Auf der einen Seite waren ein runder Aussichtspavillon und eine offene Orchestermuschel, deren grünes Kupferdach von acht hohen Säulen getragen wurde. Daneben war ein Spielplatz mit Rutschen und Klettergerüsten, deren kräftiger Rotton einen fröhlichen Kontrast zu den monotonen grauen Häuserfassaden auf der anderen Straßenseite bildete.
Wir parkten in der Nähe eines Parkeingangs. Auf einem rechteckigen Schild mit dem vertrauten Ahornblattlogo des Park Departments stand Poe Park . Daneben war die vergrößerte Signatur des Schriftstellers abgebildet.
Ich ging den geteerten Weg voraus und blieb vor einem Gebäude stehen. Das winzige weiße Holzcottage mit der schmalen Veranda, den dunkelgrünen Fensterläden und dem kleinen Schuppen an der Seite, das einst allein auf weiter Flur gestanden hatte, machte inmitten des Asphaltdschungels einen verlorenen Eindruck.
Die Tür ging auf, und eine junge Frau winkte uns von den Eingangsstufen zu. »Willkommen im Poe Cottage.« Sie stellte sich als Kathleen Bailey vor und bat uns ins Innere des Hauses.
Von der Türschwelle trat man direkt in das erste Zimmer, die kaum neun Quadratmeter große Küche. In dem winzigen Raum, der wie zu Poes Zeiten eingerichtet war, befanden sich ein Schrank, ein Holzofen, eine antike Wanduhr und ein gedeckter Tisch mit Stühlen – so als würde der Dichter jeden Augenblick zur Tür hereinkommen und sich zu uns gesellen.
»Machen Sie es sich bequem«, sagte sie, während ich den Reißverschluss meiner Jacke öffnete und meinen dicken Schal abnahm. »Edgar Poe hat das Haus 1846 für seine Frau Virginia gemietet, in der Hoffnung, dass ihr die frische Landluft gut tun würde. Damals stand es dreizehn Meilen nördlich von New York City, in dem Dorf Fordham, umgeben von einem Apfelhain.«
»Das Haus stand genau an dieser Stelle?«, fragte Mike.
»Nein, damals war es auf der anderen Straßenseite, in der Nähe der Orchestermuschel. Der frühere Polizeipräsident von New York, Teddy Roosevelt, beschloss, Poes Haus zu bewahren und es 1913 hierher zu verlegen. Poe hat drei Jahre lang in dem Haus gelebt, und als er in Baltimore starb, war er auf dem Weg hierher.«
Ich zog den Kopf ein und folgte Kathleen Bailey in das nächste Zimmer, das ein bisschen größer und formeller eingerichtet war. Vor einem großen, kolonialblau umrandeten Kamin stand ein Schaukelstuhl, und neben dem Fenster hing ein vergoldeter Spiegel. An der Wand stand ein kleiner Schreibtisch mit zwei Kerzen und einem aufgeschlagenen Buch darauf.
»Das hier ist, wie unschwer zu erkennen ist, das Wohn- und Arbeitszimmer von Poe.«
»Weiß man, was er geschrieben hat, während er hier wohnte?«, fragte ich.
»Großteils ja«, sagte sie. »Sie wissen vielleicht, dass Virginia auf ziemlich tragische Weise starb, ein Jahr nachdem sie hier eingezogen waren.«
Mike flüsterte mir ins Ohr: »In einem Kinderkrankenhaus wäre sie besser aufgehoben gewesen.«
»Wie alt war sie damals?«, fragte Mercer.
»Erst fünfundzwanzig. Damals nannte man ihre Krankheit Schwindsucht. Tuberkulose. Einige von Poes berühmtesten Gedichten sind an diesem Schreibtisch entstanden – Annabel Lee, Ulalume, Die Glocken. «
Ich dachte an die vertrauten Gedichte, die alle von der den Tod überdauernden Liebe eines Mannes zu einer verstorbenen Frau handelten.
»Ich war ein Kind, und sie war ein Kind
Am Meer, das nachts brauste und schrie …
Daß der Wind blies aus Wolken so kalt, und ließ
Sterben, verderben Annabel Lee.«
»Und hier« – Kathleen Bailey trat zur Seite, sodass ich über die Halbtür hinweg in einen winzigen Raum blicken konnte, in dem ein Einzelbett, ein kleiner runder Tisch und ein Stuhl standen – »ist das Schlafzimmer, in dem Virginia starb.«
Der kahle, schmucklose Raum war kleiner als eine
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